Am Anfang sei es oft schwierig mit Waisenkindern aus der Ukraine, sagte Maria Lwowa-Belowa. Viele von ihnen hätten Vorurteile gegen Russland, sie sängen die ukrainische Hymne oder sagten "Slawa Ukrajini" (Ruhm der Ukraine). Einige würden sogar schlecht über den russischen Präsidenten Wladimir Putin sprechen. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase lege sich das jedoch und wandle sich "in Liebe zu Russland." Das erzählte sie im vergangenen September vor der russischen Bürgerkammer, nur wenige Tage, bevor Putin die teilweise besetzten Gebiete völkerrechtswidrig annektierte.
Lwowa-Belowa ist die Beauftragte für Kinderrechte in der Russischen Föderation, sie kümmert sich also um benachteiligte Kinder, um Kinder mit Behinderung, um Kinder, die ohne Eltern aufwachsen. Seit Kriegsbeginn ist Lwowa-Belowa zuständig dafür, Kinder aus der Ukraine nach Russland zu bringen und sie dort an russische Familien zu vermitteln.
Am Freitagabend kam aus Den Haag eine einigermaßen historische Nachricht: Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) erließ Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der mit Abstand prominenteste Politiker, gegen den eine solche Entscheidung getroffen wurde. Es geht um Kriegsverbrechen, genauer: um die Verschleppung von Kindern. Neben dem russischen Präsidenten richtet sich der Haftbefehl aber auch gegen Maria Lwowa-Belowa. In der Mitteilung des ICC heißt es, man habe begründeten Anlass zu der Annahme, dass die Kinderrechtsbeauftragte dafür verantwortlich sei. Deswegen steht sie auch auf vielen Sanktionslisten des Westens.
Sie will selbst einen 15-jährigen Jungen aus Mariupol adoptiert haben
Lwowa-Belowa selbst streitet das gar nicht ab. Sie tritt immer wieder im Fernsehen auf, macht Werbung dafür, ein ukrainisches Kind zu adoptieren. In Videos auf ihrem Telegram-Kanal tätschelt sie Kinder, die mit Zügen und Flugzeugen nach Russland gebracht werden, sie drückt ihnen Luftballons und Kuscheltiere in die Hand und übergibt sie ihren Adoptiveltern.
Eines der Kinder will sie selbst aufgenommen haben, Filip, 15 Jahre alt, angeblich aus Mariupol - der Stadt, die monatelang heftig beschossen wurde und in der Tausende Zivilisten ums Leben kamen. Adoptivsohn Filip zeigt sie bei Telegram besonders gerne her. Im September 2022 soll er seinen russischen Pass bekommen haben. Er wolle ihn "gar nicht mehr loslassen" und sei "von den Emotionen überwältigt gewesen", schreibt sie. Bei einem Gespräch mit dem russischen Präsidenten im Februar 2023, das der Kreml protokolliert hat, sagte Lwowa-Belowa: "Jetzt weiß ich, was es bedeutet, Mutter eines Kindes aus dem Donbass zu sein. Es ist ein schwieriger Job, aber wir lieben uns, das ist sicher." Putin antwortete: "Das ist die Hauptsache."
Lwowa-Belowa ist bei ihren öffentlichen Auftritten immer bemüht zu betonen, dass sie ja eigentlich das Richtige tue: Das, was das Internationale Strafgericht Kriegsverbrechen nennt und der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba als Völkermord bezeichnet, heißt bei ihr "Evakuierung". Die Formulierung passt genau in die Linie des Kreml, der stets angibt, man wolle die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine von einem Nazi-Regime befreien. Für den Haftbefehl gegen sie aus Den Haag hat Lwowa-Belowa nur Spott und Zynismus übrig, anders lässt sich ihre Äußerung gegenüber der Nachrichtenagentur Tass kaum deuten: "Es ist großartig, dass die internationale Gemeinschaft die Arbeit zur Hilfe für die Kinder unseres Landes gewürdigt hat."
Die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland begann wohl mit dem ersten Tag des Krieges gegen die Ukraine. Seither versuchen die ukrainischen Behörden, die entführten Kinder zu zählen, doch es ist unklar, um wie viele es sich handelt. Die ukrainische Regierung geht von mehr als 16 000 Kindern aus, die zwangsweise nach Russland gebracht wurden. Andere Zählungen gehen bis in die Hunderttausende. Von russischer Seite gibt es keine offiziellen Zahlen, nur die unregelmäßigen Meldungen der russischen Nachrichtenagenturen, wenn wieder mal mehrere Hundert Kinder in Russland angekommen sind.
In Russland soll es Umerziehungslager für ukrainische Kinder geben
Ebenso unklar ist, wer die Kinder sind, die nach Russland gebracht werden. Die meisten von ihnen stammen wohl aus dem Donbass, also den ostukrainischen Oblasten Luhansk und Donezk, in denen die ukrainische Armee schon seit 2014 gegen prorussische Separatisten kämpft. Im vergangenen Mai verfügte Putin per Dekret, dass ukrainische Kinder, die aus der Region kommen, schneller eingebürgert werden und die russische Staatsbürgerschaft bekommen sollen. Davor war es in Russland verboten, Kinder aus dem Ausland zu adoptieren, wenn das Heimatland des Kindes nicht zugestimmt hatte.
Die Kinderrechtskommissarin Lwowa-Belowa spricht stets von Waisenkindern, die man aus Heimen in der Ukraine "rette", Kriegswaisen, die ihre Eltern seit dem 24. Februar 2022 verloren hätten, bringe man nicht nach Russland. Es gibt aber auch Berichte über Kinder, die von ihren Eltern getrennt und nach Russland verschleppt wurden. Auch Lwowa-Belowa musste einräumen: Etwa in Mariupol habe man 30 Kinder in einem Keller gefunden und sie unter russische Vormundschaft gestellt, ohne zu prüfen, was mit den Eltern der Kinder sei.
Wie diese angebliche Rettung ukrainischer Kinder aussehen kann, haben auch Wissenschaftler der renommierten amerikanischen Yale University im vergangenen Februar berichtet: Laut dem Report gibt es in Russland und auf der Krim mindestens 43 Einrichtungen, in denen Kinder festgehalten, einem prorussischen Umerziehungsprogramm unterzogen und teils auch militärisch ausgebildet werden. Mindestens 6000 Kinder seien in solchen Lagern untergebracht.