Armut ist Bedürftigkeit, sagt der Duden. Armut ist, wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, sagen Soziologen. "Armut ist, wenn einfach nix mehr da ist", sagt Bernhard Gruber, "wenn du nur noch Butterbrot essen kannst." Und er muss es wissen.
Ein grauer Morgen in Ingolstadt, an einem dieser Wintertage, an dem es nie so richtig hell wird. Gruber, ein kräftiger Mann Ende 50, hat die Neonröhre über seinem Schreibtisch eingeschaltet und sich einen Kaffee geholt. Und dann macht er, was er schon seit 25 Jahren macht: Er redet mit den Ärmsten der Armen und sieht zu, ob er ihnen nicht irgendwie helfen kann.
Bernhard Gruber vernimmt das Beben in der Gesellschaft
Seit 1997 ist Gruber, der gerne "Habe die Ehre" zur Begrüßung sagt, bei der Caritas. Sein Job heißt "Allgemeiner Sozialberater", aber Gruber ist auch eine Art Seismograf, der Beben in der Gesellschaft spürt. Die Massenarbeitslosigkeit Anfang der 2000er, da hatten die Leute plötzlich kein Geld mehr und wollten alle Termine bei ihm. Die Explosion der Mietpreise, etwa 15 Jahre später: Da kamen viele Wohnungslose. Und jetzt, natürlich, dieses verflixte 2022. Krieg, Energiekrise, alles wird teurer. So viele Terminanfragen wie jetzt, sagt Gruber, hatten er und die anderen Sozialberater in der Diözese noch nie.
Gaspreisbremse, Strompreisbremse, Einmalzahlungen, Härtefallfonds: Die Bundesregierung hat gigantische Entlastungspakete geschnürt, die den Menschen durch diese Krise helfen sollen, sie hat sich das viele Milliarden Euro kosten lassen. Den Ärmsten hilft sie außerdem mit dem Bürgergeld, das zum 1. Januar Hartz IV ablösen wird, der monatliche Regelsatz steigt dann von 449 auf 502 Euro. Die große Frage ist, ob das reichen wird, gerade für die Menschen, die keine Rücklagen auf ihren Konten haben. Also für Menschen, wie sie zu Bernhard Gruber kommen, ins Zimmer mit der Nummer 103 in der Caritas-Dienststelle in Ingolstadt.
Zehn Uhr, die Tür geht auf, eine Frau Mitte 30 lässt sich auf einen Stuhl fallen. Aus ihrer Tasche zieht sie einen Stapel Papiere, darin nachzulesen ist unter anderem die Sache mit dem Essensgeld. Die Frau ist alleinerziehend, erzählt sie, ihr älteres Kind sei acht Jahre alt und gehe zur Schule. Das Mittagessen dort kostet 48 Euro im Monat, so steht es in den Papieren, und weil die Familie Hartz IV bekommt, übernimmt diesen Betrag das Jobcenter. Weil der Frau aber eine Bescheinigung fehlte, wollte die Schule das Geld von ihrem Konto abbuchen - was nicht klappte, weil sie Mitte des Monats nicht einmal mehr 48 Euro auf dem Konto hatte.
Die Frau an Grubers Schreibtisch bricht in Tränen aus
Gruber regelt solche Sachen gern "auf dem kurzen Dienstweg", wie er sagt. Er greift zum Telefon und vermittelt den Fall an eine Sozialarbeiterin der Schule. "Die klärt das für sie", sagt er. Die Frau ist erleichtert, aber nur kurz. Was ihr am meisten zu schaffen mache, seien die Lebensmittel, sagt sie, "alles ist so teuer geworden". Gruber schaut sich noch mal genau ihre Kontoauszüge an und sieht, dass sie von ihrem Hartz-IV-Satz noch 40 Euro Schulden im Monat abzahlt. Er werde das zuständige Inkasso-Büro anschreiben, verspricht er, und versuchen, die Sache zu regeln. "Pfia Gott", sagt er zum Abschied.
Die Inflation und die Energiekrise treffen die Menschen, die zu Gruber kommen, besonders stark. Die Heizkosten der Hartz-IV-Empfänger werden zwar vom Jobcenter übernommen, nicht aber die Stromkosten. Und die haben sich, trotz der geplanten Preisbremse, bei vielen verdoppelt. "Ich höre oft, dass die Leute jetzt einen Abschlag von 70 oder 80 Euro zahlen sollen", sagt Gruber. Im Regelsatz enthalten sind aber nur 36,43 Euro. Hinzu kommen die Preissteigerungen bei den Lebensmitteln, sie liegen oft bei 30 Prozent und mehr.
Was das bedeutet, das kann die zweite Alleinerziehende an diesem Tag erzählen, sie nimmt um kurz nach elf in Grubers Büro Platz. Auch sie hat eine achtjährige Tochter, ein Zufall. Diese esse besonders gerne Obst und Gemüse, sagt sie, aber das sei jetzt nicht mehr drin. Die Frau hat ein Problem, das sie so schnell wie möglich lösen muss: Weil das Jobcenter Unstimmigkeiten bei der Nebenkostenabrechnung monierte, hat die Frau zwei Monate hintereinander weniger Geld als üblich überwiesen bekommen, so erzählt sie es. Zum Leben seien ihr noch 300 Euro für sich und ihre Tochter geblieben, und am Ende des Monats sei nichts mehr übrig gewesen - nicht einmal die 1,50 Euro für das Müsli, das die Tochter in der Schule isst. Man kann die Geschichte nicht überprüfen, man kann nur dasitzen und dabei zusehen, wie die Frau in Tränen ausbricht, wie sie sagt: "Ich bin völlig fertig."
Sollte, könnte, würde: nicht so Grubers Worte
Gruber atmet in solchen Momenten erst einmal tief durch. Über seinem Schreibtisch hängt eine Postkarte, die Wörter "Sollte", "Würde" und "Könnte" sind darauf durchgestrichen. Darunter steht, dick und rot: "Machen". Und er macht jetzt. Er lässt sich von der Frau eine Vollmacht geben. Später wird er einen Brief an das Jobcenter aufsetzen und die Sachbearbeiterin auffordern, der Frau das fehlende Geld binnen drei Tagen zu überweisen. Wenn das nicht hilft, will er sich an ihren Chef wenden. "Notfalls geh' ich auch zum Landrat", sagt Gruber, "mir wurscht." Und dann muss er erst einmal Mittagspause machen.
Gruber wird von der Kirchensteuer bezahlt, der Hinweis ist ihm wichtig, wegen all der Leute, die den Kirchen gerade davonrennen. Es sei ja richtig, sagt er später, dass die Ämter die Angaben der Leistungsbezieher genau prüften, so wie bei der Frau, die kurz vor Mittag bei ihm war. Aber bis wieder genug Geld fließe, dauere es oft Wochen, und das sei viel zu lang. "Die Leute sind am absoluten Minimum, die haben keinen Puffer."
Newsletter abonnieren:SZ am Sonntag-Newsletter
Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.
So ist es auch bei der dritten Ratsuchenden, die um viertel nach eins auf Grubers Stuhl Platz nimmt. Sie steht kurz vor der Rente, hat lange ihre Mutter gepflegt und findet jetzt, nach deren Tod, keinen Job mehr. "Alle sagen mir, ich bin zu alt", sagt sie. Auch in diesem Gespräch fließen Tränen. Bernhard Grubers Gegenüber muss sich ein paar Dinge von der Seele reden, auch deshalb kommen manche zu ihm, er sagt "hmm" und "verstehe". Die Frau leidet unter ihrer Einsamkeit und darunter, dass auch bei ihr das Geld nicht reicht. Am 18. November, so erzählt sie es, sei kein Geld mehr da gewesen, auch, weil sie sich einige Medikamente selbst kaufen musste. Zum Glück habe sie eine Nachbarin, bei der sie manchmal essen könne. Gruber schreibt mit der Frau einen Härtefallantrag an einen Sozialverein, vielleicht lässt sich dort etwas Geld für Medikamente auftreiben. Und er lädt sie ein, bei einem Gesprächskreis mitzumachen, gegen die Einsamkeit.
Als es vor seinem Bürofenster langsam zu dunkeln beginnt, klingt Grubers Stimme müde, vier ausführliche Beratungsgespräche in Präsenz und etliche Telefonate hat er geführt. Es kämen jetzt nicht nur mehr Menschen als zuvor, sondern auch andere, sagt Gruber. "Das sind nicht nur Hartz-IV-Empfänger, sondern auch mehr Leute aus der unteren Mittelschicht." Deren Ersparnisse, glaubt Gruber, seien langsam aufgebraucht. Sein Telefon klingelt. "Ja, Gruber, hallo? Um was geht es denn?" Am Apparat ist ein Mann, der seine Strom- und Gasabrechnungen nicht mehr zahlen kann. Gruber gibt ihm einen Termin für die übernächste Woche.