Das Politische Buch:Der präzise Blick der Außenseiter

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Kam nicht gern nach Deutschland: Raul Hilberg mit der Taschenbuchausgabe seines Werkes "Die Vernichtung der europäischen Juden" in einer Berliner Schule im Jahr 1992. (Foto: Henning Langenheim/picture alliance / akg-images)

Anna Corsten beleuchtet die westdeutsche Historikerzunft nach 1945 und wie sie sich mit allen Mitteln gegen die Holocaust-Forschung emigrierter Kollegen aus den USA sträubte.

Rezension von Robert Probst

Die deutschen Historiker in den ersten Jahrzehnten nach 1945 und die Erforschung des Holocaust, das ist eine nicht gerade ruhmreiche Geschichte. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler (1931 - 2014) sprach einmal von einem "seltsamen Phänomen". In einem Interview sagte er 1999: "Wir haben in den 60er- und 70er-Jahren den Holocaust, die großen Vernichtungslager, die Judenvernichtung kaum intensiv behandelt. (...) Je größer die Distanz zum Krieg wird, desto mehr nimmt die Holocaust-Debatte an Intensität zu. Naiv könnte man annehmen, dass der größte Schock nach dem Krieg erfolgt sein müsste. Ich erinnere mich, wie die amerikanische Militärpolizei mich im Frühjahr 1945 in ein Kino führte, in dem ein Film über die Befreiung von Dachau und Buchenwald gezeigt wurde. Man sah diese verhungerten Leichen. Da setzte die persönliche Schockwirkung ein - aber nicht unter den Historikern."

Wehler, Mitgründer der Historischen Sozialforschung ("Bielefelder Schule"), schob dann noch hinterher, dass damals vielleicht eine Handvoll Historiker in Westdeutschland sich mit der Vernichtung der Juden im NS-Staat beschäftigt hätte. Anderswo auf der Welt taten dies freilich bereits einige Historiker sehr intensiv - es waren aus Deutschland emigrierte Wissenschaftler, die in den USA forschten und lehrten. Und die bei den deutschen Kollegen auf der anderen Seite des Atlantiks nicht sehr willkommen waren. Weil sie unbequeme Wahrheiten dabeihatten.

Sittenbild der westdeutschen Wissenschaftsszene

Anna Corsten, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Zeitgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat für ihre aufwendige Dissertation "Unbequeme Erinnerer" den Franz-Steiner-Preis für Transatlantische Geschichte (2021) erhalten. Das Buch, das nun vorliegt, legt den Fokus auf elf Emigranten, die nach 1933 als Erwachsene, als Jugendliche oder als Kind vor den Nazis fliehen mussten und die nach dem Krieg eine Karriere als Historiker, Kulturhistoriker oder Soziologe einschlugen. Im Mittelpunkt steht deren gänzlich anderer Blick auf die NS-Zeit und die Judenvernichtung als bei den Kollegen in der frühen BRD. Im Gegenschnitt wird gezeigt, wie konsequent dann auch die Thesen und Forschungen aus den USA ignoriert oder gar diffamiert wurden. Und damit eröffnet sich ein sehr entlarvendes Sittenbild der westdeutschen Wissenschaftszunft zwischen 1945 und 1998.

Es geht dabei weniger um die Verstrickungen deutscher Historiker in den NS-Apparat oder ihre ideologische Vordenkerschaft, als vielmehr darum, wie nach 1945 in Deutschland Geschichtswissenschaft betrieben wurde und worauf sie abzielte. Diese Lektüre ist - trotz einiger Wissenschaftsfloskeln und diverser Redundanzen - auch für das breite Publikum lehrreich und augenöffnend.

Anna Corsten: Unbequeme Erinnerer. Emigrierte Historiker in der westdeutschen und US-amerikanischen NS- und Holocaust-Forschung, 1945-1998. Franz-Steiner-Verlag, Stuttgart 2023. 424 Seiten, 72 Euro. Download kostenfrei. (Foto: Franz-Steiner-Verlag)

Außer Raul Hilberg, dem zu Recht viel Raum für die Nichtanerkennung seines Hauptwerks "Die Vernichtung der europäischen Juden" eingeräumt wird, und Fritz Stern sind wohl die meisten Protagonisten heute eher unbekannt. Dennoch lohnt sich der Blick auf den Lebensweg und die Forschungsleistungen von George W.F. Hallgarten, Hajo Holborn, Adolf Leschnitzer, Hans Rosenberg, Henry Friedlander, Georg Iggers, George L. Mosse, Herbert A. Strauss und Gerhard L. Weinberg unbedingt. Bis auf Holborn waren alle durch die NS-Gesetzgebung als "voll-" oder "halbjüdisch" stigmatisiert worden. Sie sahen sich dann auch in ihrer Forschertätigkeit einem doppelten Ressentiment ausgesetzt: Als "Betroffene" den Holocaust zu erforschen - das sei wegen emotionaler Verstrickung abzulehnen. Und wegen "langjähriger Entfremdung vom deutschen Boden", so formulierte es der Großmeister Gerhard Ritter, sei es abzulehnen, dass "die Deutschen von Fremden über ihre eigene Geschichte belehrt werden".

"Totschweigen oder griesgrämige Kommentare"

Es war also nicht nur Hilberg, der zunächst mit seinen Arbeiten in Deutschland auf breite Nichtbeachtung traf, sondern auch alle anderen anderen zehn Emigranten. Corsten hat dazu vor allem die (Nicht-)Besprechungen in Fachzeitschriften und Zeitungen in den USA und der BRD miteinander verglichen. Das Muster bestätigt sich: Viele innovative Ansätze der in den USA Forschenden und Lehrenden, sei es zu Antisemitismus, zur Kriegsführung oder eben auch zum Holocaust, wurden in Amerika weit wohlwollender aufgenommen als in Westdeutschland. Hierzulande wurden sie meist einfach ignoriert. Hans Rosenberg formulierte es im Rückblick so: "Die restaurierte alte Historikerzunft dagegen ließ es meist entweder beim Totschweigen oder bei griesgrämigen Kommentaren bewenden. Der Denkansatz und die Ergebnisse meiner Untersuchung erregten Unbehagen und emotionale Beunruhigung." Nicht nur das Hauptwerk von Hilberg blieb übrigens lange Jahre unübersetzt, auch andere Bücher blieben dem deutschen Publikum vorenthalten - manch eines durch persönliche Intervention von prominenten Fachkollegen. Erst sehr langsam öffnete sich die Geschichtswissenschaft den Ideen der Emigranten, auch der persönliche, kollegiale Austausch kam nur schleppend zustande.

Späte Ehrung: Der damalige Bundespräsident Horst Köhler (links) zeichnet im Jahr 2006 den Historiker Fritz Stern anlässlich dessen 80. Geburtstages mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband aus. (Foto: Guido Bergmann/Bundespresseamt)

Besonders wertvoll macht die Arbeit die strukturierte Analyse des Bildes, das deutsche Historiker bis in die 1960er-Jahre hinein von sich und ihrer Arbeit hatten - es ist kein schmeichelhaftes. Corsten formuliert es so: "Sich selbst erklärten die deutschen HistorikerInnen zu Beschützern der eigenen Vergangenheit." Lange hielten sie - wie schon Nicolas Berg in "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker" 2003 herausgearbeitet hat - am Narrativ fest, dass der Nationalsozialismus eine Art Betriebsunfall mit einer kleinen Gruppe von Tätern gewesen sei, oder arbeiteten sich an Strukturdebatten des NS ab. Wichtig war ihnen der positive Bezug zur nationalen Vergangenheit und die Relativierung des aktiven Beitrags der Bevölkerung an Verbrechen. Die Emigranten betonten hingegen mit scharfem Blick gerade den aktiven Beitrag und die Handlungsspielräume der Menschen, zeigten mit den Fingern auf Kontinuitäten nach 1945, betonten die Einzigartigkeit des Holocaust - alles jenseits des Atlantiks sehr unangenehm, und an nationale Tabus rührend.

Zahllose Wunden blieben bei den Beteiligten zurück

Dieser Deutungskampf ging bei vielen - vor allem bei Hilberg, der sich oft, vielleicht über Gebühr, zum "Außenseiter" stilisierte - mit emotionalen Verletzungen einher, und das nicht nur bei dessen bitterem Streit mit Hannah Arendt. Faszinierend ist allerdings auch zu beobachten, wie etwa Stern, Hilberg oder auch Weinberg im hohen Alter dann doch noch ihre Anerkennung in Deutschland fanden und am Ende als bundesverdienstkreuzgeschmückte "Pioniere" dastanden. Viele Faktoren spielten hier eine Rolle, etwa der Generationenwechsel, beginnende Pluralisierung oder größeres Interesse der Öffentlichkeit, doch ganz klar werden die Gründe für diese 180-Grad-Wendung nicht.

Auf einer Konferenz in Israel soll Hilberg einmal gesagt haben: "Erst beachten sie (die Deutschen, Anm. d. Red.) mich nicht, dann machen sie mich zu einem Heiligen. Beide Male lesen sie meine Bücher nicht." Das war wahr und übertrieben zugleich. Aber auch Corsten sieht hier ein Problem: "Hilbergs Stilisierung zum Klassiker der Zeitgeschichte modelliert eine Geschichte über die Vermeidung des Themas Holocaust zur Erfolgsgeschichte um." Geht es also in Wahrheit nur um "Symbolpolitik", wie die Autorin am Schluss nahelegt, um Kritikern von innen und außen entgegenzukommen? Dass die Inhalte dieser Standardwerke (weiterhin und auf Dauer) zu kurz kommen, kann also leider bis heute nicht ausgeschlossen werden.

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