Henry Kissinger:Ein Hundertjähriger auf Heimatbesuch

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Eine große Bühne wurde Kissinger zu seinem 100. Geburtstag im Juni in Fürth bereitet. (Foto: Daniel Vogl/dpa)

Der US-Politiker und Staatsmann lässt sich in seinem Geburtsort Fürth feiern. Die Rückkehr zu den Wurzeln eines bewegten Lebens bleibt nicht ohne Erkenntnis.

Von Stefan Kornelius, Fürth

Semantha ist sieben Jahre alt, sie beobachtet die Szene mit den vielen Polizeiautos vor dem Ludwig-Erhard-Zentrum im fränkischen Fürth und stellt eine naheliegende Frage: "Kann man mit hundert Jahren noch leben?" Die Antwort kommt in diesem Augenblick im Rollstuhl auf die Straße gerollt, steigt in die Limousine und fährt davon. Das Flugzeug wartet, Henry Kissinger hat Termine, die Geburtstagsfeier ist zu Ende.

Hundert Jahre ist Henry Kissinger am 27. Mai geworden, in New York gab es mindestens drei Feiern, aber der Festzyklus endet im Stadttheater der Geburtsstadt. 90 Jahre ist es her, da begab sich Heinz Kissinger auf Geheiß des Vaters Louis zum ersten Mal ins Fürther Theater und musste die Oper Fidelio schauen. Nun sitzt er selbst auf der Bühne und sagt mit langsamer, brüchiger Stimme: "Der Kreis meines Lebens rundet sich hier harmonisch ab. Den Wunsch, den ich so viele Jahre hatte, konnte ich heute hier vollenden." Da stockt der Festgemeinde kurz der Atem - hat der Jubilar gerade mitgeteilt, dass nun alle Ziele erfüllt seien und er quasi in Frieden sterben könne?

Das ist natürlich Unfug, weil Henry Kissinger noch zwei Buchmanuskripte abzuliefern hat und überhaupt über einen derart vollen Terminkalender verfügt, dass er Einladungen für den kommenden Februar jetzt bereits ausschlägt. Nach Fürth ist er gekommen, weil er den Großteil seiner ersten 15 Lebensjahre in der Marienstraße verbracht hat, ehe seine Eltern 1938 vor den Nazis in die USA fliehen mussten.

Es geht um die Wurzeln der Kissingers, das jüdische Erbe, die Prägung des Patriarchen

Der Rest ist bekannt, aber zu den wenig ergründeten Faktoren aus dem Kissinger-Leben gehört diese Jugend in Deutschland - und ihre Bedeutung für das Lebenswerk. Wenn man davon ausgeht, dass im Alter die Erinnerung an die Kindheit und die Eltern an Bedeutung gewinnt, dann liefert dieser Kurztrip eines Hundertjährigen zurück in die Vergangenheit viel Anschauungsmaterial. Vor dem Geburtshaus haben sie jetzt eine Plakette enthüllt, auf den Straßen brandete spontan Applaus auf, und auf der Bühne singt der Unterstufenchor jener Schule, in der Kissingers Vater einst unterrichtete und, wie der Sohn sagt, die glücklichsten Jahre seines Berufslebens hatte. Das Lied handelt vom Freund, dem guten Freund - der bleibt, auch wenn die Welt zusammenfällt. Damit kennt sich Kissinger aus.

Überhaupt die Eltern und die Familie. Aus den USA ist der ganze Familienclan angereist, Sohn David, Tochter Elizabeth. Es geht um die Wurzeln der Kissingers, das jüdische Erbe und die Prägung des Patriarchen, der als Außenminister, Sicherheitsberater, Wissenschaftler, Ratgeber und geopolitische Ein-Mann-Show Geschichte geschrieben hat. Was aber hat ihn angetrieben, was hat Fürth und die Flucht aus Deutschland mit dem Werk des Staatsmanns zu tun?

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Der Springer-Vorstand Mathias Döpfner, ein enger Bekannter Kissingers, führt den politischen Antrieb auf jenen Moment zurück, als Kissinger während der Befreiung des Konzentrationslagers Hannover-Ahlem einem jüdischen Häftling zurief, er möge die Mütze nicht abnehmen, er sei nun frei, "Du bist immer noch ein Mensch". Die Bestialität der Nazi-Vernichtungsmaschine gegen Freiheit - das ist ungefähr die Dimension, in der Kissingers Lebenspendel oszilliert.

Wer als Politiker handele, mache sich stets schuldig, zitiert Schäuble

Diese Leistung wird in Fürth ausgiebig gewürdigt, angefangen vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier über den früheren Bundestagspräsidenten und Ewigminister Wolfgang Schäuble bis hin zum Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Der verleiht Kissinger den Maximiliansorden des Freistaates, der eigentlich nur alle zwei Jahre für Verdienste in Wissenschaft und Kunst vergeben wird. Kissinger, und hier wird die sentimentale Dimension der Jubiläumsreise wieder sichtbar, nimmt den Orden im Namen der Familie und in Erinnerung an die Eltern an, "die in Fürth so glücklich gelebt haben".

Schäuble, nach wie vor ein Freund der klaren Ansagen, kann es sich nicht verkneifen, den Realpolitiker zu loben, der - auch aus der Kindheitserfahrung in Fürth - "Unverzichtbares geleistet hat für unsere Sicherheit und Freiheit". Allen, die Kissinger bis heute einen Zyniker oder im schlimmsten Fall einen Verbrecher nennen, gibt er den kühlen Rat, "moralisierende Besserwisserei" einzustellen. "Natürlich ist vieles umstritten, was (Kissinger) als Realpolitiker entschieden hat." Darüber müsse gestritten werden. "Aber den Vorwurf mangelnder Moral halte ich für grottenfalsch." Wer als Politiker handele, mache sich stets schuldig, zitiert Schäuble den früheren Kanzler und Kissinger-Freund Helmut Schmidt. Und für einen Politiker, vielleicht gerade für einen mit dem Erfahrungspaket aus der Fürther Marienstraße, gelte: "Handeln ist geradezu moralisch zwingend."

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