Das Politische Buch:Die dunkle Macht der "Befreier"

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Unter der Erde: Foto aus einem Hamas-Tunnel im Gazastreifen im Jahr 2016. (Foto: Adel Hana/AP)

Wie wurde die Hamas zur Beherrscherin des Gazastreifens? Und wie konnte es zum 7. Oktober kommen? Der Historiker Joseph Croitoru hat die Antworten. Besonders wertvoll macht sein Buch der nüchterne Blick auf die Fakten.

Rezension von René Wildangel

Erstmals veröffentlichte Joseph Croitoru 2007 ein Buch über die Hamas, das damals eine wichtige Lücke schloss. 2010 erfolgte eine Aktualisierung. Als Neuausgabe kann man das jetzt erschienene "Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel" allerdings kaum bezeichnen. Denn seitdem ist viel passiert: Die anhaltende israelische Blockade des Gazastreifen, die sich vertiefende Spaltung zwischen den beiden wichtigsten palästinensischen Parteien, ein israelischer Rechtsruck und gleich mehrfache kriegerische Auseinandersetzungen. Die Jahre vor dem 7. Oktober schildert Croitoru ausführlich - ohne den Fehler zu machen, die Geschichte immer aus der Perspektive der aktuellen Katastrophe zu erzählen. Den ganz aktuellen Geschehnissen räumt Croitoru dann am Ende noch zwei Kapitel ein.

Dem Historiker Croitoru gelingt nicht nur ein sachliches und detailliertes Porträt der Hamas und ihrer Ideologie, sondern der palästinensischen Politik insgesamt. Denn seit der Gründung der Hamas 1987 ist das auch die Geschichte einer erbitterten Feindschaft zwischen den Islamisten und den säkularen Fraktionen der PLO. Croitorus Buch beginnt mit einer kurzen Geschichte des Gazastreifens, die nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948 vor allem durch die fast 200 000 Palästinenser bestimmt wurde, die dorthin flohen oder vertrieben wurden. Es folgten fast zwei Jahrzehnte ägyptischer Besatzung, mit einer wenig bekannten Unterbrechung während der Suezkrise 1956/57. Croitoru beschreibt bereits damalige israelische Überlegungen, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen und Siedlungen zu errichten.

Für Israel einst ein willkommener Rivale der PLO

Bereits seit den 1960er-Jahren führte dann Ahmad Jassin die religiösen, aber auch sozialen und politischen Aktivitäten der Muslimbrüder im Gazastreifen, aus deren Reihen 1987 die Hamas gegründet wurde. Aus israelischer Sicht war sie zunächst ein willkommener Rivale der noch militant agierenden PLO.

Doch das änderte sich mit Beginn des Friedensprozesses - die Hamas bekämpfte nun nicht nur erbittert und gewaltsam ihren säkularen innenpolitischen Rivalen, sondern auch Israel. Sie wurde zunehmend aus Iran unterstützt und wählte als Mittel Selbstmordattentate, die sich jetzt auch massiv gegen Zivilisten in Israel richteten. Ausführlich analysiert Croitoru die Charta von 1988 als Ausdruck ihrer islamistisch motivierten, aber jetzt auch nationalistisch begründeten Ablehnung der Zweistaatenlösung zugunsten eines "Dschihad" mit dem Ziel der "Befreiung Palästinas". Zugleich zeugt sie vom tief verwurzelten Antisemitismus und der Antiliberalität der Bewegung.

Alltägliches Bild: Quassam-Brigaden im Gazastreifen im Jahr 2015. (Foto: Mohammed Abed/AFP)

Mit der Absicht, den Oslo-Prozess zu stoppen, hatte die Hamas Erfolg. Benjamin Netanjahu und Ariel Sharon taten alles, um den von der PLO versprochenen palästinensischen Staat zu verhindern. Nach der Eskalation der zweiten Intifada, in der sich die beiden palästinensischen Rivalen mit ihrem Einsatz von Gewalt regelrecht überbieten wollten, stand die säkulare Fraktion um den in seinem zerstörten Amtssitz belagerten, kranken Präsidenten Arafat vor dem Nichts.

Erdrutsch-Wahlsieg der Hamas im Jahr 2006

Die Schwäche der Säkularen nützte der Hamas. Bei den nationalen Wahlen 2006 erzielte sie einen Erdrutschsieg. Wirklich verändert hatte sich die Bewegung laut Croitoru aber nicht, sondern sich nur entschieden, das "demokratische Spiel" mitzuspielen, um ihre islamistischen Ziele durchzusetzen. Die Folgen der internationalen Nichtanerkennung der Hamas-Regierung 2006 und das Scheitern der Einheitsregierung 2007 sind bekannt: ein blutiger Bürgerkrieg und der Putsch der Hamas im Gazastreifen.

Joseph Croitoru: Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel. Verlag C.H. Beck, München 2024. 223 Seiten, 18 Euro. E-Book; 12,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Croitoru schildert detailliert die Folgen der autoritären Hamas-Herrschaft im Gazastreifen und die schleichende Islamisierung des öffentlichen Lebens, der Verwaltung und Justiz. Vor allem der zunehmende Einfluss des militärischen Flügels der Hamas gehört dann bereits zur Vorgeschichte des 7. Oktober. Was in Croitorus Buch zu kurz kommt, ist die Darstellung anderer gesellschaftlicher Strukturen im Gazastreifen und einer weiterhin existenten kritischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, wie sie auch unter schwierigsten Bedingungen und trotz Zensur noch bestand: zum Beispiel seitens unabhängiger Journalistinnen und Journalisten oder der Menschenrechtsorganisationen, die nicht nur israelische Rechtsverletzungen anprangerten, sondern auch noch immer mutig Kritik an der Hamas äußerten und sich für deren Opfer einsetzten.

Das Grundsatzprogramm von 2017 stiftete Verwirrung

Auch wenn man bei Croitorus Darstellung den Eindruck gewinnen könnte, dass die Entwicklung hin zum 7. Oktober fast zwangsläufig erfolgt sei, waren sich viele Beobachter bis zuletzt unsicher bezüglich der Einordnung der Hamas. Das neue Grundsatzprogramm der Hamas von 2017, das sich unter anderem als implizite Anerkennung der Grenzen von 1967 lesen ließ, stiftete laut Croitoru in dieser Hinsicht Verwirrung. Dabei war doch andererseits die Hinwendung zum militärischen Weg aus seiner Sicht offensichtlich. Schließlich habe auch der gemeinhin als "gemäßigt" geltende Ismail Hanija bereits Einigkeit mit den Qassam-Brigaden demonstriert.

Leid ohne Ende: Seit dem Einmarsch der israelischen Armee im Gazastreifen nach dem 7. Oktober wurden Tausende Zivilisten getötet und zahllose Häuser zerstört. Ob die Hamas auf diese Weise wirklich "ausgeschaltet" werden kann, ist mehr als fraglich. (Foto: AFP)

Doch auch die israelische Regierung ging davon aus, dass seitens der Hamas kein Interesse an einer Eskalation bestünde. Netanjahus extremistische Koalition war ihrerseits mit der groß angelegten israelischen Protestbewegung beschäftigt; zudem waren militärische Einheiten aufgrund eskalierender Siedlergewalt in die Westbank abgezogen worden.

Nüchtern und sachlich schildert Croitoru in den letzten beiden Kapiteln auch die Ereignisse seit dem 7. Oktober. Er lässt ebenso wenig Zweifel am Ausmaß des Massakers der Hamas wie an der katastrophalen Dimension des Krieges in Gaza, in dem er bestenfalls spärliche, oft nur "formelhaft" vorgetragene israelische Rechtfertigungen für die weitreichenden Zerstörungen sieht.

Ein Blick in die Zukunft ist derzeit schwierig

Einen Krieg, der noch anhält, kann man nur bedingt beschreiben. Der extrem knappe Ausblick im Buch ist daher wohl der Aktualität geschuldet. Hier hätte man dennoch gern einige weitergehende Reflexionen über die Zukunft des Gazastreifens und der Hamas selbst gewünscht - denn die von Israel angekündigte "Vernichtung" der Hamas dürfte wohl kaum realistisch sein.

Der Detailreichtum von Croitorus Buch ist ebenso beeindruckend wie die sachliche Darstellung - in Zeiten aufgeregter und polemischer Debatten, in denen auch mit viel Unwissen über die Hamas hantiert wird, ist das Buch uneingeschränkt zu empfehlen.

René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem zum Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten.

(In einer früheren Fassung hieß es, das neue Grundsatzprogramm der Hamas sei von 2021. Es ist aber von 2017.)

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