Das Politische Buch:Nakba und Frohlocken

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Trauma für die Palästinenser: Sogar auf T-Shirts wird das Datum der Nakba gedruckt, wie hier 2008 in Nablus. (Foto: Jaafar Ashiyeh/AFP)

"Unschuld israelischer Waffen"? Arabische Barbarei? Der Historiker Benny Morris entlarvt mit seiner schonungslosen Analyse des Krieges von 1948 einige Mythen der zionistischen Geschichtsschreibung. Palästinenser seien damals durchaus gewaltsam vertrieben worden.

Rezension von Ludger Heid

Am späten Abend des 14. Mai 1948 notierte David Ben Gurion in sein Tagebuch: "Jubel und Freude im Lande. Wieder, wie am 29. November 1947, ich bin ein Trauernder unter Frohlockenden." Die Trauer, von der er hier sprach, bezog sich auf die bereits Gefallenen des Krieges; die Freude mag auch seinem Bonmot geschuldet sein, das er einmal von sich gegeben hatte und lautet: "Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist." Dieses prophetische "Wunder" war an diesem 14. Mai 1948 für die jüdische Welt Wirklichkeit geworden - Ben Gurion hatte am Nachmittag den Medinat Jisrael, den Judenstaat Israel, proklamiert.

Am 29. November 1947 hatte die UN-Vollversammlung mit einer Majorität von mehr als zwei Dritteln der Mitgliedsstaaten beschlossen, Palästina in einen arabisch-palästinensischen und einen jüdischen Staat zu teilen. Arabische Sprecher betonten, "nicht für den Holocaust bezahlen" zu wollen, und kündigten an: "Es ist der feste und eindeutige Wille der Araber, keine Lösung in Betracht zu ziehen, die den Verlust ihrer Souveränität auch nur über irgendeinen Teil ihres Landes bedeuten würde." Für die Juden indes bedeutete der UN-Beschluss 181, dass ihnen ebendieses Recht auf die Erneuerung ihrer Souveränität endlich zuerkannt worden war. Schon am Tag nach dem Teilungsbeschluss begannen die antijüdische Unruhen in der gesamten arabischen Welt, die alles bis dahin Gewesene in den Schatten stellten. Dem Mob war die Straße überlassen, die Pogrome in Kairo, Aden und Aleppo sind nur die bekanntesten.

"Dies wird ein Krieg der Vernichtung sein."

Die arabische Antwort auf die israelische Unabhängigkeitserklärung ließ ebenfalls nicht lange auf sich warten. Radio London meldete in seiner Spätsendung am 14. Mai 1948, die arabischen Staaten seien im Begriff, von allen Seiten in Palästina einzudringen. Ein großer Teil der Arabischen Legion, ausgestattet mit Waffen, die die Engländer geliefert hatten, stehe bereits auf palästinensischem Boden. Im Norden begannen syrisch-libanesische Truppen gleichfalls ihren Vormarsch über die Grenze. Fünf arabische Staaten führten unter Missachtung der UN-Resolution einen Angriffskrieg gegen das jüdische Gemeinwesen in Palästina.

Ein Anfang nach langem Warten: Der erste israelische Premierminister David Ben-Gurion (stehend) verkündet in Tel Aviv vor Mitgliedern der jüdischen Ratsversammlung die Gründung des Staates Israel, während über ihm ein Porträt von Theodor Herzl, Begründer des politischen Zionismus, hängt. (Foto: dpa)

An Schabbatmorgen, 15. Mai 1948, fielen Bomben auf Tel Aviv. Mehrere Spitfires kreisten über der Stadt. Überall im Lande kam es zu Bombenanschlägen und Überfällen auf jüdische Siedlungen. Abdel Rahman Azzam, Generalsekretär der Arabischen Liga, verkündete: "Dies wird ein Krieg der Vernichtung sein und ein enormes Massaker, von dem man noch ähnlich sprechen wird wie von den Massakern der Mongolen." Rufe wie "Idbah al Yahud" ("Schlachtet die Juden"!) waren allenthalben auf Straßendemonstrationen in Jaffa, Kairo, Damaskus und Bagdad und selbst in Pakistan zu hören.

Der erste arabisch-israelische Krieg, so der Untertitel von Benny Morris' 2008 im Original und nun in deutscher Erstausgabe erschienenem Buch, ist für das Verständnis des aktuellen Kriegs der Israelis gegen die Hamas im Gazastreifen von fundamentaler Bedeutung.

Die Analyse ist für beide Seiten schmerzhaft

Morris, Emeritus der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva, ist einer der "Neuen Historiker", die seit den 1980er-Jahren die Historiografie Israels mitbestimmen. Ihr gemeinsames Ziel ist es, die gängige Geschichte Israels und des Zionismus einer Revision zu unterziehen. "Neu" bedeutet auch, bislang nicht frei zugängliche Archivalien heranzuziehen - auch britische und amerikanische. Morris' prall mit 644 Seiten Geschichte gefüllte Studie ist eine schonungslose Analyse, die für beide Seiten schmerzhaft ist. Er widerspricht dem traditionellen zionistischen Narrativ, beschönigt nichts, hinterfragt wohlbekannte Mythen, die hierzulande auch einer antisemitisch motivierte Täter-Opfer-Umkehr dienen, in der Absicht, aus Israelis in ihrem Umgang mit den Palästinensern die Nazis von heute zu machen. Nach 1947/48 neigten die Israelis dazu, die "Unschuld der Waffen" ihrer Soldaten und Milizionäre zu loben und sie der arabischen Barbarei gegenüberzustellen, die sich gelegentlich in der Verstümmelung der Leichen jüdischer Gefangener Bahn gebrochen hatte.

Benny Morris: 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg. Übersetzt von Johannes Bruns und Peter Kathmann. Verlag Hentrich & Hentrich, Leipzig 2024. 646 Seiten, 32 Euro. (Foto: Hentrich & Hentrich)

Im Laufe ihres Unabhängigkeitskrieges sahen sich die Israelis militärisch gezwungen, schreibt Benny Morris, Araber aus Dörfern zu vertreiben, für die Araber ein nationales Unglück, was die Palästinenser in ihrem Sprachgebrauch "Nakba" nennen. Den Archivalien entnahm er, dass der Prozess von Flucht und Vertreibung nicht ideologisch motiviert, nicht dogmatisch festgelegt war, sondern sich "evolutionär entlang des Kriegsgeschehens" entwickelt habe. Die staatspolitisch unterstützte israelische Geschichtsschreibung sagt, dass alle 700 000 Palästinenser im Krieg 1948 ihre Häuser freiwillig verlassen hätten. Die sich "neue" Historiker nennenden israelischen Geschichtswissenschaftler sagen, dass ein Teil als Flüchtlinge gewaltsam von israelischen Milizen vertrieben wurde. Und als arabische Führer begannen, die Flüchtlinge zur Rückkehr in ihre Häuser zu drängen, und gleichzeitig drohten, die jüdische Gemeinschaft zu zerstören, so Morris, ließ es den Israelis wenig Spielraum für Fehler oder humanitäre Bedenken. In Morris' Worten: Der arabische "Vertreibungswahn" schürte das zionistische "Vertreibungsdenken". Eine "beträchtliche muslimisch-arabische" Minderheit sei an ihrem Platz geblieben, eine Minderheit, die in der Gegenwart 20 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmache.

Auch wurden Hunderttausende Juden aus der arabischen Welt vertrieben

Die arabischen Staaten weigerten sich indes, die Flüchtlinge aufzunehmen. Dabei war ihnen klar, dass sie durch die Aufrechterhaltung des Flüchtlingsstatus eine verbitterte, verarmte palästinensische Gemeinschaft verstetigten. Die Existenz von Flüchtlingslagern war und ist ein probates Propagandawerkzeug, das am humanen Image Israels kratzt. Andererseits schuf der 1948er-Krieg ein zweites großes Flüchtlingsproblem: Etwa 600 000 in der arabischen Welt lebende Juden mussten unter Zurücklassung ihres Eigentums vor entfesselten Gewaltausbrüchen ihre Heimat verlassen, wurden vertrieben, der Großteil gelangte nach Israel.

Auf der Flucht: Im Krieg des Jahres 1948 wurden Hunderttausende Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben. (Foto: Eldan David/dpa)

Der Krieg 1948 endete mit Waffenstillstandsabkommen, von denen kein einziges das Ziel "Frieden" zum Thema hatte. Die Araber zeigten sich angesichts der Demütigungen der Niederlage unwillig, mit dem in ihrer Mitte entstandenen Staat Israel Frieden zu schließen. Die einzigen arabischen Führer, die ernsthaft Friedensverhandlungen geführt haben - König Abdallah von Jordanien und Ägyptens Anwar al-Sadat - wurden ermordet. Zwar unterzeichneten Ägypten und Jordanien Friedensverträge mit Israel, doch die arabische Welt - der Mann auf der Straße, der Intellektuelle in seinem Turm, der Soldat in seinem Unterstand - weigerte sich, die Existenz Israels zu akzeptieren. Die Araber sind nie von der Maximalforderung, einen palästinensischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer zu errichten, abgerückt.

Obwohl nur teilweise verwirklicht, gilt die UN-Resolution von 1947 bis heute als völkerrechtliche Legitimation sowohl des Staates Israel als auch des palästinensischen Rechtsanspruchs auf einen eigenen Staat. Die Ansprüche der beiden Völker besitzen Gültigkeit und sind doch völlig unvereinbar. Ohne Rücksicht auf die historischen Ursachen des Konflikts, das Recht und das Unrecht, die Versprechen und Gegenversprechen ist es Realität, dass Juden und Araber in einem Land leben und sich nicht mit der nahöstlichen Ordnung abzufinden vermögen.

Ludger Heid ist Neuzeithistoriker. Er lebt in Duisburg.

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