Energieversorgung:Aus Angst wird Sorglosigkeit

Lesezeit: 3 min

In Rehden, Niedersachsen, steht der größte deutsche Erdgasspeicher. (Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa)

Nach Russlands Lieferstopp befürchtete Deutschland einen Kollaps. Doch das Gas hat gereicht, die Preise sind wieder gefallen. Für Experten noch kein Grund zur Entwarnung.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Die Lage ist ernst, der Kanzler hält es knapp. Keine zwei Minuten dauert seine Erklärung, Rückfragen gibt es keine. Um Bürger zu entlasten, werde die Mehrwertsteuer auf Gas vorübergehend abgesenkt, verkündet Olaf Scholz. "Die Gerechtigkeitsfrage ist entscheidend, damit das Land in dieser Krise zusammenbleibt."

Genau ein Jahr sind diese Worte nun her, sie wirken wie aus einer anderen Zeit. Im August 2022 steuert Deutschland dem Höhepunkt der Energiekrise entgegen, und niemand weiß, wann und wie sie enden wird. Gasimporteure blicken in den Abgrund, weil sie kein Gas mehr aus Russland bekommen. Wenige Tage nach der Erklärung des Kanzlers wird der Gaspreis einen Rekordstand erreichen, kurz darauf geht auch der Strompreis durch die Decke. Noch einmal ein paar Tage später wird Russland den Gastransport durch die Ostsee komplett einstellen. Und der Winter naht.

Wie anders wirkt die Lage ein Jahr später. Der Gaspreis ist deutlich gesunken. Am Handelspunkt TTF, wo er für die Niederlande ermittelt wird, pendelt er irgendwo zwischen 30 und 40 Euro die Megawattstunde Erdgas. Das ist weit entfernt von jenen mehr als 300 Euro, die er Ende August 2022 erreicht hatte. Allerdings auch immer noch rund doppelt so viel wie vor zwei, drei Jahren. Auch der Strompreis ist nicht ganz auf dem alten Niveau - aber im vorigen August lagen die Börsenpreise um das Sechsfache über den Preisen derzeit. Die deutschen Gasspeicher dagegen sind mit 92 Prozent Füllstand so gut wie voll, und das schon sechs Wochen vor Beginn der Heizperiode. "Natürlich stehen wir deutlich besser da", sagt auch Klaus Müller, der Chef der Bundesnetzagentur, im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. "Aber Entspannung? Dieses Wort wird nicht über meine Lippen kommen."

(Foto: SZ-Grafik: Jetzig; Quelle: AGSI+, Bundesnetzagentur, Refinitiv)

Experten sehen das ähnlich. "Wir sind noch nicht über den Berg", sagt der Bochumer Energieökonom Andreas Löschel, Chef jener Kommission, die im Regierungsauftrag das Fortkommen der Energiewende verfolgt. Im vorigen Sommer habe es Schreckensszenarien vom Kollaps der Energieversorgung gegeben, in diesem Sommer seien viele völlig unbesorgt. "Und beides ist übertrieben." Stattdessen mache sich nach dem letzten Winter und angesichts niedriger Gaspreise das Gefühl breit, es könne schon nicht so schlimm kommen.

"Die hohen Preise hatten eine enorm disziplinierende Wirkung."

Dabei hängt auch das weiter davon ab, wie viel Gas das Land benötigt. Während die deutsche Industrie um die 20 Prozent weniger Energie verbraucht, sind die privaten Haushalte hier die große Unbekannte Nummer eins. Werden sie auch dann sparsam heizen, wenn Gas wieder deutlich günstiger ist? "Die hohen Preise hatten eine enorm disziplinierende Wirkung", sagt Löschel. "Jetzt besteht die Gefahr, dass das wieder zurückschlägt." Die zweite große Unbekannte ist der Winter. Das sorgt auch die Netzagentur, die im Falle eines Engpasses das knappe Gas verteilen muss. "Sobald der Winter sehr kalt wird, stehen wir vor einer kritischen Lage", sagt Müller.

Das ist, bei aller Ruhe rund um die Gasversorgung, nicht die einzige Gefahr. Denn nach wie vor bezieht Ungarn rund 80 Prozent seiner Gasimporte aus Russland, auch in Österreich und Tschechien werden immer noch Gazprom-Moleküle verbrannt. Sollte Russland auf die Idee kommen, auch diese Lieferungen zu kürzen, könnte die Knappheit ganz schnell zurück sein. "Im Falle einer Krise dort werden sich die Blicke sofort auf Deutschland richten", schwant Müller. Auch die Gefahr eines terroristischen Anschlags ist nicht aus der Welt - wie im September vorigen Jahres, als Sprengsätze an drei der vier Nord-Stream-Röhren in der Ostsee detonierten. Zwar gebe es alle möglichen Schutzvorkehrungen. "Aber die Infrastruktur ist immer eine Achillesferse." Würde etwa eine Leitung aus Norwegen beschädigt, stünde Deutschland vor einem handfesten Problem.

Und doch: Geschieht dergleichen nicht, wird der kommende Winter nicht mit dem vorigen vergleichbar sein. "Es hat sich ja doch eine Menge getan", sagt Sebastian Bleschke, Chef des Gasspeicher-Verbands Ines. Schwimmende Terminals an Nord- und Ostsee liefern Flüssigerdgas, ein bisschen was fließt aus Frankreich, und aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien strömt deutlich mehr. "Und vor allem haben sich nun alle am Markt darauf eingestellt, dass aus Russland nichts mehr kommt", sagt Bleschke. Viel von der Unsicherheit des vorigen Jahres sei verschwunden.

Aber normale Verhältnisse? Die erwartet auch der zuständige Behördenchef erst in einigen Jahren. "Richtig entspannt sind wir erst, wenn wir mit Fernwärme, Wärmepumpen und der Modernisierung der Industrie so weit sind, dass uns die Gasspeicher gut über jeden Winter bringen", sagt er. "Da haben wir aber noch ein gutes Stück Weg vor uns."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungEnergiewende
:Bayern profitiert von der Solidarität des Nordens

Wenn es um den Ausbau der Windkraft geht, sollen die Lasten aus Sicht der Münchner Staatskanzlei nach Möglichkeit die anderen tragen. Wenn das mal nicht nach hinten losgeht.

Kommentar von Michael Bauchmüller

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: