EU-Treffen in Salzburg:Gipfel des Stillstands

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Gute Miene zum ergebnislosen Spiel: Die EU-Staats- und Regierungschefs beim Gruppenfoto vor Salzburger Kulisse (Foto: AFP)
  • Die Zahlen zeigen, dass die EU das Migrationsproblem einigermaßen im Griff hat. Bei dem Versuch, eine dauerhafte Lösung zu finden, zerfleischt sie sich fast.
  • Besonders deutlich wird das Problem bei der Frage nach Aufstockung und erweiterten Kompetenzen für die Grenzschutzagentur Frontex.
  • Die EU-Staaten wollen in der Migrationspolitik die Gespräche mit Ägypten und anderen nordafrikanischen Staaten vertiefen. Man sei jedoch "weit weg von einer spezifischen Vereinbarung", relativierte ein EU-Diplomat.

Von Thomas Kirchner, Salzburg

Zu den angenehmeren Eigenschaften Jean-Claude Junckers zählen seine gelegentlichen Anfälle von Ehrlichkeit. Meist ist der Kommissionspräsident strategisch ehrlich, manchmal aber auch ehrlich ehrlich. Wie am Donnerstagmorgen, als er frei heraus bekennt, es gebe "keinen nennenswerten Fortschritt" in der europäischen Migrationsdebatte. Präziser kann man es kaum ausdrücken. Das "informelle" Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Salzburg war, was dieses Großthema betrifft, ein Gipfel des Stillstands.

Auf den ersten Blick passt die Feststellung nicht zu den Jubelgrafiken, die Ratspräsident Donald Tusk vor dem Treffen verbreitete. Sie zeigen, dass 2015 ein dramatischer Ausreißer war und dass wieder so viele oder so wenige Migranten ankommen wie vor der Krise. Bis August waren es laut Frontex bisher 86 500 irreguläre Grenzübertritte, also 40 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die meisten reisen über das Meer nach Spanien, kaum noch jemand nach Italien. Das ist das Paradox: Die EU hat das Problem faktisch einigermaßen im Griff, aber sie zerfleischt sich fast bei dem Versuch, eine dauerhafte gemeinsame Lösung zu finden. "Wir haben eine politische Krise, keine Flüchtlingskrise", konstatiert Luxemburgs Premier Xavier Bettel in Salzburg.

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Besonders klar wird dies beim Grenzschutz, den ja vor allem konservative Regierungen gern verstärken wollen. Inzwischen ist das Konsens, ein entsprechender Auftrag erging beim Juni-Gipfel an die Kommission. Als diese aber jüngst ihre Vorschläge für einen kräftigen Ausbau der gemeinsamen Frontex-Grenzschutztruppe präsentierte, stemmten fast alle Staaten ihre Hacken in den Boden. Juncker hatte angeregt, die ständige Reserve schon 2020 auf 10 000 Einsatzkräfte aufzustocken, ursprünglich war das erst 2027 geplant. Außerdem sollen Frontex-Beamte deutlich mehr dürfen als bisher: nämlich alles, was nationale Grenzschützer schon machen. "Sie wollen uns Söldner aus Brüssel schicken", warnte Ungarns Premier Viktor Orbán prompt. "Und wir sollten uns keine Illusionen machen, sie werden die Migranten reinlassen."

Auch kooperativere Staaten stellen Fragen. Soll wirklich die EU-Kommission über solche Einsätze entscheiden? "Es gibt noch Diskussionsbedarf, was die nationalen Souveränitätsrechte betrifft", sagt Östterreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz. Wird der Ausbau mit mehr als elf Milliarden Euro nicht zu teuer? Und, wichtiger noch, gibt es überhaupt eine Nachfrage nach der Truppe? Die 1500 Mann, die seit Anfang 2017 bereitstehen, sind von den meisten EU-Mitgliedsstaaten noch nie eingesetzt worden.

Dabei könnten die Außengrenzstaaten, wie es scheint, durchaus Unterstützung gebrauchen. Die Niederlande etwa stellen fest, dass rund die Hälfte der bei ihnen ankommenden Migranten nicht registriert sind. Wie passt das zur Aussage von EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos, fast alle würden registriert? Offenbar gibt es noch große Löcher beim Grenzschutz. Das Thema Frontex wird zunächst auf Beamtenebene besprochen. Es sei recht unwahrscheinlich, dass noch vor den Europawahlen im Mai darüber entschieden würde, sagt eine EU-Diplomatin.

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Das sagt der EU-Ratspräsident nach dem Gipfeltreffen in Salzburg. Beim Binnenmarkt dürfe es keine Kompromisse geben, erklärt Merkel. Allerdings könne man "sehr viel Kreativität entwickeln".

Immerhin, die Atmosphäre sei ganz ordentlich gewesen, resümiert ein Diplomat

Auch bei den "Anlandeplattformen" ist kein Fortschritt zu erkennen. Die EU hatte im Juni beschlossen, Partner in Nordafrika zu suchen, die bereit wären, auf See gerettete Migranten zurückzunehmen. Was dieses Konzept beinhaltet und wo es angewandt wird, ist völlig offen. "Die Diskussion ist im Fluss", sagt ein EU-Diplomat. Um wenigstens ein kleines bisschen Dynamik anzudeuten, rückten Tusk und Kurz die Kooperation mit Ägypten in den Vordergrund. Das Land werde zwar keine Flüchtlingszentren einrichten, sagte Kurz, aber es habe erreicht, dass von dort seit zwei Jahren keine Boote mehr ablegten. "Ägypten ist effizient", schwärmte Kurz, und es sei bereit zu einer vertieften Zusammenarbeit. Im Februar will die EU in Kairo mit den Ländern der Arabischen Liga über das Thema diskutieren. Man sei jedoch "weit weg von einer spezifischen Vereinbarung", relativierte ein EU-Diplomat. Ebenso im Fluss sind die Überlegungen, "kontrollierte Zentren" in der EU zu schaffen, um dort möglichst rasch die Schutzbedürftigen unter den Migranten zu ermitteln und alle anderen zurückzuschicken.

Nein, einen "substantiellen Fortschritt" habe er nicht erkennen können in Salzburg, resümiert ein Diplomat. Aber immerhin, die Atmosphäre sei ganz ordentlich gewesen. Das liegt auch daran, dass es der österreichischen Ratspräsidentschaft gelungen ist, das weiterhin umstrittenste Thema außen vor zu lassen: die Frage der Verteilung der Flüchtlinge zwischen den EU-Staaten, also die Reform der Dublin-Regeln. Juncker, der den Streit sichtlich leid ist, deutet auf dem Gipfel ein Umdenken an: Man könne jenen Ländern, die sich weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen, doch gestatten, sich auf andere Art und Weise solidarisch zu zeigen. Ähnlich äußert sich Bundesaußenminister Heiko Maas am Donnerstag.

Dessen Chefin Angela Merkel rückt die deutsche Position aber schnell wieder gerade. "Es kann nun auf keinen Fall sein, dass jeder sich aussuchen kann, was er gerne machen möchte", sagt sie am Ende. "Da müssen noch viele weitere Gespräche geführt werden."

© SZ vom 21.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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