Die Bataillone standen noch jenseits der Grenze, es rollten noch keine Panzer gen Kiew, und in Europa spekulierte man noch, ob es Russlands Präsident Wladimir Putin wirklich wagen würde, die Ukraine zu überfallen. Aber die Energiekrise hatte schon begonnen im Herbst 2021, die Strom- und Gaspreise in Europa schossen genauso in die Höhe, wie es die Inflationsrate tat. Innerhalb eines Jahres hatten sich die Gaspreise im europäischen Durchschnitt verdoppelt, die Preise für Strom waren um etwa die Hälfte gestiegen. In Berlin regierte die Ampelkoalition gerade ein paar Wochen lang, als die ersten Energieversorger ihren Kunden saftige Preissteigerungen ankündigten. Wirtschaftsforschungsinstitute sprachen längst von einem Energiepreisschock - und dann kam auch noch der Krieg, Russland stoppte seine Gaslieferungen, und in Frankreich standen wegen der Dürre die Atomkraftwerke still.
Europas Regierungen machten daraufhin Milliarden Euro locker, um ihren Bürgern zu helfen, um Unternehmen zu entlasten und eine schlagartige De-Industrialisierung zu verhindern. Sie senkten Steuern, führten Preisdeckel ein und zahlten Transfers an besonders betroffene Bevölkerungsgruppen aus. Die Summen sind gewaltig, hat die Brüsseler Denkfabrik Bruegel errechnet: Von September 2021 bis Ende Juni dieses Jahres stellten die EU-Staaten 646 Milliarden Euro Subventionen bereit, um die steigenden Kosten abzufedern.
Während die Regierungen im Krisenmodus agierten, fingen Beamte in Brüssel an, Gesetze zu schreiben. Auf die überschießenden Preise für Erdgas reagierte die EU etwa mit einem gemeinsamen Gas-Einkauf, um die Nachfrage zu bündeln. Und mit einer umfassenden Reform der Strommärkte, die auf einen Schock wie in den vergangenen beiden Jahren denkbar schlecht vorbereitet waren. Mitte März 2023 veröffentlichte die EU-Kommission entsprechende Vorschläge. Die zielen darauf ab, den Strom- vom Gaspreis zu entkoppeln, und sie sollen gleichzeitig den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen.
Eine Grundsatzreform hat sich die Kommission nicht zugetraut
Verbraucher und kleinere Unternehmen sollen künftig unter anderem von langfristigen Verträgen profitieren, die mehrere Jahre gelten - "Power Purchase Agreements", lautet das Fachwort für diese Art der Verträge, die bisher vor allem in der Industrie verbreitet sind. Endkunden sollen dann zwischen Festpreisverträgen und Verträgen mit dynamischen Preisen wählen können. So könnten sie sich sowohl für sichere, langfristige Preise als auch für Verträge mit sich verändernden Preisen entscheiden, wenn sie Preisschwankungen ausnutzen wollen - etwa, um Strom dann zu nutzen, wenn er billiger ist für den Betrieb des Wäschetrockners, das Aufladen von Elektroautos oder für Wärmepumpen. Wer seine Rechnung nicht begleichen kann, dem sollen Versorger künftig nicht mehr einfach den Strom abstellen dürfen.
Zum Kern der Reform gehören darüber hinaus sogenannte Differenzverträge (Contracts for Difference, CFDs). Sie sollen den EU-Staaten zusätzliche Mittel für den Ausbau der Erneuerbaren verschaffen. Mit einem solchen Vertrag vereinbaren staatliche Behörden und Stromerzeuger für eine bestimmte Zeit, etwa 20 Jahre, einen Preiskorridor. Fällt der Preis am Markt unter die untere Grenze, gleicht der Staat die Differenz aus. Steigt der Preis höher als die Obergrenze, zahlen die Kraftwerksbetreiber an den Staat, der das Geld dann umverteilen kann. Anders als vor allem von Frankreich und Spanien gefordert, sollen diese CFDs dem ursprünglichen Vorschlag zufolge aber freiwillig gelten und für neue Investitionen, nicht für bestehende Kraftwerke. In Deutschland würde das System die bisherige Einspeisevergütung ersetzen.
Eine Grundsatzreform hat sich die Kommission nicht zugetraut, das sogenannte Merit-Order-Prinzip bleibt unangetastet. Es bezeichnet die Einsatzreihenfolge von Kraftwerken an der Strombörse: Kraftwerke, die billig Strom produzieren können, werden zuerst herangezogen, um die Nachfrage zu decken. Das sind zum Beispiel Windkraftanlagen. Am Ende richtet sich der Preis aber nach dem zuletzt geschalteten, also teuersten Kraftwerk - das ist oftmals mit Gas betrieben. Die enge Bindung der Strom- an die Gaspreise bleibt also zunächst bestehen.
Frankreich will Atomkraftwerke subventionieren
Das EU-Parlament hat vor der Sommerpause auf Ausschuss-Ebene seine Position zu der Reform festgelegt und wird demnächst im Plenum über seine Version des Gesetzes abstimmen. Im Rat der Mitgliedstaaten sind indes wesentliche Punkte noch umstritten. Unter schwedischer Ratspräsidentschaft gelang den Ratsmitgliedern im Juni nur eine Teileinigung. Umstritten ist vor allem die Frage, ob auch bestehende Anlagen von staatlichen Subventionen profitieren können sollen. Darauf dringt insbesondere Frankreich, das sich neuen Spielraum für staatliche Investitionen in seine Atomkraftwerke erhofft.
Bei der Regulierung der Energiemärkte steht sich die EU grundsätzlich auch selbst im Weg. In Artikel 194 des Lissabon-Vertrags sind die Ziele der EU-Energiepolitik festgeschrieben: etwa eine gemeinsame "Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts" oder eine "Förderung der Interkonnektion der Energienetze". Dazu sollen Rat und Parlament Gesetze erarbeiten. Zugleich ist Energiepolitik demnach aber nationale Angelegenheit: Ein Mitgliedstaat darf "die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung" selbst bestimmen. Von einer echten gemeinsamen Energiepolitik bleibt die EU also weit entfernt.