Das Politische Buch:Der sture Radikal-Reformer

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Der General und sein Präsident: Salvador Allende grüßt am 21. Mai 1972 in Santiago aus einen offenen Wagen. Auf dem Pferd General Augusto Pinochet - sein Putsch wird eineinhalb Jahre später das Land epochal verändern. (Foto: AP)

Günther Wessel erklärt, wie Chiles sozialistischer Präsident Salvador Allende die Gesellschaft verändern wollte - und dabei scheiterte. Doch 50 Jahre nach dem Militärputsch bewegt seine Geschichte die Menschen noch immer.

Rezension von Sebastian Schoepp

Der überwiegende Teil der Welt bringt das Datum des 11. September mit einem Großereignis in Verbindung: dem Angriff auf das World Trade Center in New York 2001. Nicht so Chile, da wird vor allem des 11. September 1973 gedacht. Vor 50 Jahren putschte der General Augusto Pinochet gegen den Präsidenten Salvador Allende und beendete ein politisches Experiment, das danach noch jahrzehntelang einen hervorgehobenen Platz im Erinnerungskanon der Linken weltweit belegen sollte: Es war der Versuch gewesen, die krasse soziale Ungleichheit im Land zu beenden und die aus der Kolonialzeit ererbten Machtstrukturen durch einen ehrgeizigen Reformkatalog aufzubrechen.

Da die Allende-Regierung dies allerdings mit der Brechstange versuchte, ist die Erinnerungskultur in Chile gespalten: Während der Pinochet-Diktatur galt der 11. September regierungsamtlich als Tag der Nationalen Befreiung - und wird tatsächlich von einem gewissen Bevölkerungsanteil bis heute als solcher gesehen, nämlich von jenen unbelehrbaren Eliten, für die jede Form von Gerechtigkeit kommunistisches Teufelszeug ist. Für eine Mehrheit aber erinnert der 11. September an den Beginn systematischer Verfolgung, an ein brutales Zwangssystem aus Folter und Repression.

Dreimal kandidierte der "rote Allende" erfolglos

Der Journalist und Chile-Kenner Günther Wessel hat zum 50. Jahrestag des Putsches ein Buch über Allende geschrieben, einen Links-Politiker, der den repräsentativen Auftritt liebte, der ein emotiver Redner war, der sich nach außen gesprächsbereit zeigte, sich innerlich aber kaum von einem einmal eingeschlagenen Weg abbringen ließ. Der Schwerpunkt im ersten Teil des Buches liegt auf dem Werdegang des "Roten Allende" bis zur Präsidentschaft, vom Hilfsarzt in der Provinz, der 1939 Gesundheitsminister wurde, später Vorsitzender der sozialistischen Partei - und der dreimal erfolglos für das Präsidentenamt kandidierte, bis er es mit der für ihn charakteristischen Sturheit schließlich 1970 doch noch knapp schaffte: Allerdings erhielt er nur die relative Mehrheit von 36,3 Prozent der Stimmen, was in Chile damals für den Sieg genügte. Dass er kein ausreichendes Plebiszit gehabt habe, um derart radikale Reformen zu verwirklichen, wurde ihm von seinen Gegnern immer wieder vorgeworfen. Es erklärt teils den erbitterten Widerstand, der Chile zwischen 1970 und 1973 an den Rand des Bürgerkrieges brachte, was Wessel detailreich und ausgewogen schildert.

Tausende kamen während der Pinochet-Regierung in Chile ums Leben. Dieser Tage wird an den 50. Jahrestag des Sturzes von Salvador Allende erinnert. (Foto: Esteban Felix/AP)

Das Buch erzählt dabei im Wesentlichen die bekannten Ereignisse in komprimierter Form nach, angereichert durch Gesprächsnotizen mit Zeitzeugen, die der Autor teils zwanzig Jahre lang aufgehoben hat, was sich als segensreich erwies, denn viele von ihnen sind inzwischen verstorben. Das ergibt in der Summe einen guten Überblick. Als Leistung des Sozialisten hebt Wessel hervor, dass Allende einen demokratischen Reform-Weg beschreiten wollte, anders als der Stichwortgeber aus Kuba. Von Fidel Castro nahm Chiles unglücklicher Präsident nur eines an: die geschenkte Kalaschnikow, mit der er sich am Ende, während des Sturms auf seinen Präsidentenpalast, erschossen haben soll ("Allende ergibt sich nicht, Scheiße").

Günther Wessel: Salvador Allende. Eine chilenische Geschichte. Ch. Links-Verlag, Berlin 2023. 256 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: Ch. Links Verlag)

Wer diese Thematik bereits kennt, wird aber möglicherweise eine tiefergehende Analyse vermissen. Was macht Lateinamerikas Eliten so reformrenitent? Warum hat nach Pinochets Putsch in Lateinamerika niemand mehr ein Experiment nach Allende-Vorbild versucht? Nicht mal die Protagonisten Lateinamerikas linker Renaissance während der Nullerjahre, Hugo Chávez und Néstor Kircher, stellten die Marktwirtschaft ja mehr grundsätzlich infrage. Darüber hinaus kam Chile nach dem 11. September 1973 eine zentrale Rolle als Versuchsküche US-amerikanischer Neoliberaler zu, deren Rezepte heute Weltmainstream sind. Lag dem Abwürgen der Allendeschen Vision bereits eine geostrategische Gegenutopie made in USA zugrunde?

Die Erinnerung lebt: Eine Projektion von Salvador Allende und seiner Ehefrau Hortensia Bussi am Präsidentenpalast in Santiago. (Foto: John Moore/Getty Images)

Immerhin lernt man im zweiten Teil des Buches viel über Chiles Rückkehr zur Demokratie, einen typischen Akt lateinamerikanischer Selbstbefreiung "im Krebsgang", wie es die Nichte des gestürzten Präsidenten, die Schriftstellerin Isabel Allende, einst ausgedrückt hat. Alles musste aus sich selbst heraus geschehen, ohne äußere Intervention und Einmischung, anders als beim Putsch zuvor. Wessel schildert ausführlich die Gespaltenheit der Nation und schlägt einen Bogen bis hin zur Wahl des jungen Linken Gabriel Boric zum Präsidenten 2021 - worin viele eine Art historischer Revision fast fünfzig Jahre nach Allende gesehen haben, symbolisch unterfüttert durch die Ernennung einer Allende-Enkelin zur Verteidigungsministerin.

Gabriel Boric wird als politischer Enkel Allendes gesehen

Folgt man Wessels zahlreich zitierten Gesprächspartnern aus Santiago, so besteht Borics Aufgabe nicht zuletzt darin, die Trümmer des Pinochet-Systems wegzuräumen, die betonierte soziale Ungleichheit, die zu immer neuen Protestwellen führt. Ob das als neuer Aufbruch zu verstehen ist, versieht Wessel aber selbst mit einem Fragezeichen. Dass Boric gleich zu Anfang mit einem partikularistischen Verfassungsreferendum scheiterte, hat ja gezeigt, dass auch Allendes politischer Enkel offenbar nicht vor einem alten Fehler der Linken gefeit ist: zu viel auf einmal zu wollen.

Ein bisschen überraschend kommt angesichts der beschriebenen Ambivalenz Wessels Schlussbemerkung, Allende sei ein Politiker gewesen, "wie ihn nicht nur Chile" auch heute noch gut brauchen könnte. Doch wer sollte ihn wählen? In einer Zeit, in der sozialistische Utopien im linken Wertekanon hinter moralischer Unangreifbarkeit zurücktreten müssen, würde es ein Machopolitiker, der sich wegen Liebeshändeln duellierte und der sich kaum verhohlen eine Affäre parallel zum Eheleben leistete, wohl kaum noch bis zur Kandidatur schaffen.

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