Das Geschrei vor der Wahl war groß. Ein Radikaler sei dieser junge Mann, ein Kommunist, ein Extremist; er dürfe unmöglich Präsident werden. Am Ende aber konnten alle Schmutzkampagnen nicht verhindern, dass es doch so kam. Gabriel Boric, 35, Vollbart und tätowierte Unterarme, zieht kommendes Frühjahr in den Präsidentenpalast von Chile ein. Er wird der jüngste Staatschef in der Geschichte des Landes - und der erste dezidiert Linke in diesem Amt seit Salvador Allende.
Die Welt muss sich nun keine Sorgen machen, dass Chile in eine kommunistische Diktatur abgleitet. An seinen politischen Inhalten gemessen ist Gabriel Boric ungefähr so radikal wie Olaf Scholz. Kostenlose Schulen und Universitäten, eine auskömmliche, staatliche Rente, eine gute Gesundheitsversorgung auch für die gesetzlich Versicherten - das alles würde der Bundeskanzler ganz selbstverständlich unterschreiben. Und regierte er nicht mit der FDP, dann hätte Scholz ausweislich seiner Wahlkampfversprechen ja auch die Steuern für die Reichsten moderat erhöht; Boric will die obersten 1,5 Prozent der Chilenen und die Bergbau-Konzerne etwas stärker belasten.
Radikal ist Borics Programm nur im Wortsinn: Er will an die Wurzel des chilenischen Systems ran. Der Neoliberalismus, den einst Diktator Augusto Pinochet dem Land verordnete, soll weichen - und damit die eklatante soziale Ungleichheit, die Chile bis heute brodeln lässt.
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Was diese Wahl auch bedeutet: Das Pinochet-Lager hat verloren
An einem Wandel arbeitet Gabriel Boric seit mehr als zehn Jahren. Als Studentensprecher führte er die Proteste von 2011 an, als Hunderttausende für mehr Gerechtigkeit auf die Straße gingen. Bei den nächsten großen Demonstrationen 2019 gehörte er wieder zu den Wortführern. Die Regierung machte damals den Weg frei für eine neue, gerechtere Verfassung, sie wird derzeit ausgearbeitet. Mit Borics Wahl bestätigt sich nun, was sich 2019 abzeichnete: Die Forderungen der jungen Chilenen haben es endgültig von der Straße in die etablierte Politik geschafft.
Borics Wahl ist schon deshalb ein Grund zur Freude, weil sie bedeutet, dass José Antonio Kast nicht Präsident wird. Der Besiegte ist ein strammer Rechtsausleger. Kast verherrlicht die Pinochet-Diktatur, er wollte Abtreibungen weitgehend verbieten, das Recht auf Waffenbesitz lockern und einen riesigen Graben an der Nordgrenze des Landes ausheben lassen, wegen der venezolanischen Migranten. Für den "chilenischen Bolsonaro", wie ihn einige Medien treffend nannten, stimmten am Sonntag immerhin 44 Prozent der Wähler.
Diese 44 Prozent sind die größte Herausforderung für den neuen Präsidenten. Unter ihnen sind bei weitem nicht nur Fremdenfeinde und Superreiche, sondern auch viele Chilenen, die sich nach Sicherheit sehnen. Sie sorgen sich vor den zunehmenden Problemen mit Drogenbanden, wegen des ungelösten Konflikts mit den Mapuche-Ureinwohnern im Süden oder auch, weil ihnen der Verfassungsprozess von 2019 schlicht zu schnell geht. Dieser wird geprägt von jungen Linken, die ganz selbstverständlich mehrere Sprachen sprechen und gendern.
Boric muss nun zeigen, dass er auch seinen Kritikern etwas bieten kann. Er muss die Kriminalität senken und die angekündigten Sozialreformen umsetzen, ohne dabei die Wirtschaft abzuwürgen. Auf seinen 35 Jahre alten Schultern lasten schwere Aufgaben - und die Hoffnungen seiner Generation.