Das Politische Buch:Das Prinzip Chefsache

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Wer ist Koch, wer Kellner in auswärtigen Angelegenheiten? Höflich bieten sich der designierte Bundeskanzler Gerhard Schröder (rechts) und der künftige Bundesaußenminister Joschka Fischer gegenseitig einen Stuhl an. (Foto: Tim Brakemeier/dpa)

In seinem Buch "Wetterwechsel" erzählt der Politikwissenschaftler Mariano Barbato von der Außenpolitik der Kanzler, von Bismarck bis Scholz. Eine seine Lehren lautet: Deutschland braucht entweder mehr Macht - oder mehr Demut.

Von Johan Schloemann

So gut wie alles soll anders sein seit dem 24. Februar 2022, dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Doch in der Art und Weise, wie Deutschland gegenüber dem Rest der Welt agiert, sind zwei Dinge gleich geblieben: Erstens besteht seit dem Kaiserreich die Tradition, dass die Kanzler die Außenpolitik im Wesentlichen konzipieren und bestimmen. Das Auswärtige Amt setzt diese Politik um und führt sie aus, auch wenn man das dort naturgemäß etwas anders sieht.

Und die zweite Konstante ist seit Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, dass (West-)Deutschland zwischen halber Führungsmacht und Zurückhaltung changiert. Das heißt, man ist sich - auch wegen historisch bedingter Vorbehalte gegen deutsches Machtgehabe - nie ganz sicher, ob Deutschland gerade sein Selbstbewusstsein oder seine Abhängigkeit von Bündnissen herauskehrt. Wobei das Selbstbewusstsein meist mit der Wirtschaftskraft zu tun hat und die Abhängigkeit meist mit Sicherheitspolitik. Auch wenn sich das jetzt mit der "Zeitenwende" ein wenig ändern soll, so jedenfalls die erklärte Absicht.

Führungsanspruch oder Herumeiern?

Es sind solche wiederkehrenden Motive, die der Politikwissenschaftler Mariano Barbato in seiner neuen kanzlerorientierten Geschichte der deutschen Außenpolitik seit Bismarck herausarbeitet - trotz dramatischer historischer Brüche und Ausnahmen. Und wie um die Beobachtungen dieses Buches mit dem Titel "Wetterwechsel" genau zu bestätigen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz soeben in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs beides markiert: seinen außenpolitischen Führungsanspruch zur Verteidigung einer "regelbasierten internationalen Ordnung"; und andererseits die Beweglichkeit - um nicht zu sagen: das Herumeiern - in der Frage, ob das Land in der Mitte Europas nun als eigene Macht auftritt oder weiter unter amerikanischem Schutz steht. Olaf Scholz schreibt in seinem Aufsatz von der Absicht, "ein Garant europäischer Sicherheit zu werden", zugleich aber auch "ein Brückenbauer innerhalb der Europäischen Union" sowie trotz allem natürlich ein treuer transatlantischer Partner zu bleiben. Das sind einige Rollen auf einmal, und es klingt nicht so, als müsste sich Deutschland zwischen ihnen entscheiden.

Olaf Scholz gilt das letzte der außenpolitischen Kanzlerporträts in Barbatos Buch. Die Reaktion auf den Ukraine-Krieg hat der Politologe, der an den Universitäten Passau und Münster tätig ist, noch berücksichtigen können: "Das gesamte deutsche Geschäftsmodell innerhalb der Globalisierung", so liest man da, "steht zur Disposition." Und auch sonst ist der Ausblick ernüchternd: Die Möglichkeiten Deutschlands (und Frankreichs), Europa überhaupt zu einem gemeinsamen Kurs zu bringen, schätzt Barbato trotz der gegenwärtigen Solidarität gegenüber Kiew als sehr gering ein.

Deutschland übernahm sich mehrmals

Er schreibt zudem den Verfassern von Strategiepapieren und programmatischen Reden im Berliner Regierungsapparat ins Stammbuch, "dass eine regelbasierte Welt nach deutschem Regelverständnis und Regelungsinteresse nicht einfach so entsteht, weil sie für die ganze Welt so attraktiv, gut und vernünftig ist". Und weiter: "Die sanfte Macht dieses Modells bedarf der Unterstützung durch harte Machtfaktoren, oder aber es muss an entscheidenden Stellen mehr Demut in der deutschen Außenpolitik einkehren."

Das ist die aktuelle Lehre aus 150 Jahren Außenpolitik, in denen Deutschland sich als später Nationalstaat aufgeschwungen und sich mehrmals übernommen hat - bis hin zu verbrecherischer Zerstörung und rassistischem Massenmord -, um sich dann raffiniert als Exportweltmeister "im Windschatten" des Westens zu bewegen, wie Barbato schreibt.

Mariano Barbato: Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Scholz. Campus, Frankfurt am Main 2022. 314 Seiten, 32 Euro. (Foto: Campus)

An dieser letzteren Ausrichtung hat sich, dies führt das Buch plausibel aus, auch nach der Wiedervereinigung bis heute noch gar nicht so viel geändert, trotz des zwischenzeitlichen Versuchs des Kanzlers Gerhard Schröder (1998 bis 2005), im Ausscheren aus dem Krieg gegen den Irak eine Achse Berlin-Paris-Moskau zu bilden. Die fatalste Ausnahme von dieser Westbindung, lange Zeit scheinbar so unsichtbar wie das transportierte Gas, war bekanntlich die immer weiter gesteigerte Energieabhängigkeit von Russland, die allerdings auch schon auf die deutsch-sowjetischen Röhrengeschäfte im Zuge der Ostpolitik von Willy Brandt (Kanzler von 1969 bis 1974) zurückging.

"Eiszeit", "Tauwetter", "Windstille"

"Wetterwechsel" heißt das Buch von Mariano Barbato, weil er darauf verweisen kann, dass die manchmal doch recht abstrakten Trends der Außenpolitik immer wieder gern mit Wetter-Bildern beschworen wurden. Dies bewahrt den Autor so gerade von dem Vorwurf, es selbst mit den meteorologischen Metaphern zu übertreiben. Bernhard von Bülow, Reichskanzler von 1900 bis 1909, forderte etwa im Anschluss an den verbreiteten Imperialismus und Kolonialismus für Deutschland einen "Platz an der Sonne", die Nationalsozialisten sprachen dauernd vom "Sturm" (was Militärsprache und Naturgewalten sozialdarwinistisch verband), im Kalten Krieg war die Rede von "Eiszeit" oder "Tauwetter", und Angela Merkels eher strategiefreie Außenpolitik "konzentrierte sich", in Barbatos Worten, "auf die Simulation von Windstille in den Turbulenzen von Weltwirtschaft und Weltpolitik".

Reklamierte für Deutschland "einen Platz an der Sonne" und meinte damit nicht die Strände von Mallorca: Bernhard von Bülow, deutscher Reichskanzler von 1900 bis 1909. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Von einem pausenlosen Brausen wird man beim Lesen dieses Buches allerdings auch nicht erfasst, weil die Prosa des Autors selbst voller Wetterwechsel ist. Das Verhältnis von Interpretation und Erzählung wirkt mitunter etwas unsortiert, mal schreibt Barbato voraussetzungsreich, mal eher einführend, mal gelingen ihm treffende Charakterisierungen, mal liest es sich gewunden, und einige Druckfehler gibt es auch. Aber all das wird aufgewogen durch die interessante und nur scheinbar altmodische Abfolge von Kanzler-Kapiteln (eine einzige Kanzlerin ist auch dabei). Diese Portionierung nach dem Prinzip Chefsache ist nämlich nicht nur recht kurzweilig und entspricht der Richtlinienkompetenz, sie macht auch von Kapitel zu Kapitel anschaulich, wie für die Regierenden die Tagespolitik und folgenreiche Weichenstellungen oft undurchschaubar verknotet sind.

Und wie werden die nächsten Kapitel ausfallen? Wie geht es weiter zwischen Russland, China, Amerika, dem Süden und der großen Transformation? Mariano Barbato warnt vor der Irrtumsanfälligkeit von außenpolitischen Prognosen. Ohne Häme stellt er fest: "Die für die Außenpolitik wohl wichtigste Vorhersage der beiden zurückliegenden Dekaden war die von Herfried Münkler 2004 vertretene These vom Ende der großen Staatenkriege bei gleichzeitiger Persistenz kleiner Kriege. Putins Überfall auf die Ukraine war der schwarze Schwan, der diese These widerlegte."

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