Afghanistan:Der allmächtige Verbündete

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(Foto: Sgt. Victor Mancilla/AP)

Die Lage in Kabul führt Europa drastisch die Abhängigkeit von militärischen Fähigkeiten der USA vor Augen. Das befeuert Zweifel an der Verlässlichkeit des Alliierten und Rufe nach Autonomie.

Von Paul-Anton Krüger und Mike Szymanski, Berlin

Mitte Juni war Europa noch mit sich im Reinen. US-Präsident Joe Biden kam zu Besuch. Freundliche Versicherungen der Verbundenheit traten an die Stelle der Beschimpfungen durch seinen Vorgänger Donald Trump. Beim G-7-Gipfel in Cornwall, bei der Nato und der EU in Brüssel: Biden reklamierte die Führungsrolle der USA, sprach aber zugleich viel von Konsens. Und davon, Allianzen zu pflegen. Das transatlantische Bündnis schien wieder aufzuleben.

Jeder der Verbündeten habe letztlich der Entscheidung zugestimmt, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen, hieß es aus der US-Delegation. Lediglich der tschechische Präsident Miloš Zeman störte die Harmonie und warf den Amerikanern "Verrat" vor. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ging über die Kritik hinweg, machte weiter in der Tagesordnung. Es ging um Russland und vor allem China, die Themen, die Biden in den Fokus seiner Außen- und Sicherheitspolitik stellt.

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Nun, da der Durchmarsch der Taliban nach Kabul und der Kollaps der afghanischen Regierung Chaos brachte und eine massive Evakuierungsmission erzwungen hat, tut sich eine neue Kluft auf zwischen London, Paris, Berlin auf der einen und Washington auf der anderen Seite. Schürten unter Trump dessen Tiraden Zweifel, wie sehr die Europäer sich noch auf die USA verlassen können, sehen sie dies nun durch den Ablauf der Evakuierung und die Folgen des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung infrage gestellt, nicht zuletzt wegen zu erwartender Flüchtlinge.

Allerdings war auch im Juni schon klar: Etwas anderes, als sich den Amerikanern zu fügen, blieb den europäischen Verbündeten kaum. Die Bundesregierung hatte schon unter Trump darauf gedrungen, den Abzug an die Bedingungen in Afghanistan zu knüpfen, an einen politischen Prozess zur Teilung der Macht zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban. Sie hoffte, bei dessen Nachfolger Gehör zu finden. Doch Biden glaubte nicht, dass dies nach 20 Jahren mit einer fortgesetzten Militärpräsenz noch zu erreichen sei.

Biden stand vor einer unmöglichen Wahl

Zwar hatte Trump ihn mit dem im Februar 2020 ausgehandelten Deal mit den Taliban in eine unmöglich Lage gebracht: Er stand vor der Wahl, den Abzug durchzuziehen oder einen offenen Krieg mit den erstarkenden islamistischen Extremisten zu riskieren. Das hätte ein Ende des im eigenen Land zutiefst unpopulären längsten Militäreinsatzes der US-Geschichte unabsehbar gemacht.

Zugleich war Biden aber schon als Vizepräsident unter Barack Obama zutiefst skeptisch gegenüber den Versicherungen der Generäle, dass eine Aufstockung der Truppen wie zuvor im Irak die Situation am Hindukusch wenden würde. Er konnte sich 2009 nicht mit seiner ablehnenden Position durchsetzen. Die Alternative zum Abzug wäre aber auch diesmal ein solcher Schritt gewesen.

Und so machte Biden Schluss - nicht ohne den G-7-Partnern zu versichern, die USA würden in Kabul eine ausreichende Präsenz belassen, um die Sicherheit ihrer Botschaft und anderer Missionen zu garantieren, wie die Nachrichtenagentur Bloomberg unter Berufung auf britische Diplomaten berichtet. Den unmittelbaren Kollaps der afghanischen Regierung und der Armee hatte man in Washington nicht erwartet, auch wenn die Geheimdienste warnten, Kabul können binnen sechs Monaten fallen.

Gemeinsam hinein, gemeinsam wieder heraus, so lautete die Devise des Einsatzes. Allein: Wenn die Amerikaner gehen, können die Europäer nur folgen. Einmal mehr bekommen sie schmerzlich ihre Abhängigkeit von den militärischen Fähigkeiten der USA vor Augen geführt. Biden hat das US-Kontingent binnen Tagen auf mehr als 6000 Soldaten fast verdreifacht. Ohne sie aber können die Alliierten den Flughafen in Kabul weder sichern noch betreiben, wie der britische Verteidigungsminister Ben Wallace einräumte. Die Briten stellen mit 1000 Soldaten das zweitstärkste Kontingent.

Der Konflikt hat sich nun auf die Frage zugespitzt, ob die Evakuierungsmission auch nach dem 31. August fortgesetzt werden soll, der von Biden selbst gesetzten Frist. Großbritannien, Frankreich und Deutschland drängten ihn vor dem virtuellen Krisengipfel der G-7-Staats- und Regierungschefs am Dienstag dazu - vorerst vergeblich. Es werde mehr Zeit gebraucht, sagte etwa Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian. Die Europäer sind noch dabei, Ortskräfte und andere gefährdete Afghanen und teils eigene Staatsangehörige auszufliegen. Sie befürchten, dass sich dieser ohnehin gefährliche und komplexe Auftrag nicht binnen einer Woche zu einem erfolgreichen Ende führen lässt. Biden aber sagte lediglich zu, Notfallpläne ausarbeiten zu lassen.

Der zivile Teil des Flughafens ist auf absehbare Zeit nicht wieder in Betrieb zu nehmen

Biden hat CIA-Chef Bill Burns, zugleich einen seiner fähigsten Diplomaten, nach Kabul geschickt, wo er am Montag laut Washington Post den politischen Anführer der Taliban getroffen hat, Mullah Abdul Ghani Baradar. Aber auf deren Einlenken will sich das Pentagon offenkundig nicht verlassen, nachdem ein Taliban-Sprecher zuvor den 31. August als rote Linie bezeichnet hatte und bei der "Fortsetzung der militärischen Besatzung" mit einer "Reaktion" drohte.

In den 24 Stunden bis Dienstagmorgen um drei Uhr afghanischer Zeit flogen die Amerikaner und ihre Verbündeten laut dem Weißen Haus 21 600 Menschen aus, in den vorangegangenen 24 Stunden waren es noch 11 400 gewesen, auch das schon ein Höchststand. Allein die USA brachten mit 32 Transportmaschinen vom Typ C-17 Globemaster und fünf weiteren C-130 Hercules 12 700 Menschen in Sicherheit, mehr als alle Evakuierungsflüge am Tag zuvor insgesamt.

Der massive Druck auf die US-Regierung erklärt sich auch aus dem Mangel an Alternativen: Andere Flughäfen in Afghanistan sind derzeit nicht in Betrieb. Und am Hamid Karzai International Airport hängt nicht nur die Sicherheit des Areals an den Amerikanern, das Militär wickelt auch den gesamten Flugbetrieb ab. Die Taliban haben zwar in Aussicht gestellt, dass auch Afghanen das Land weiter mit kommerziellen Flügen verlassen könnten. Doch der zivile Teil des Flughafens in Kabul ist nach Angaben aus Sicherheitskreisen auf absehbare Zeit nicht wieder eigenständig in Betrieb zu nehmen.

Es fehlt an Radar und Technik für die Anflugverfahren, an Fluglotsen, aber auch an simplen Dingen wie Gangways oder Spezialfahrzeugen zum Verladen von Gepäckcontainern. Die Bundesregierung lässt ihren Afghanistan-Sonderbeauftragten Markus Potzel in Katar mit den Taliban auch über Ausreisemöglichkeiten auf dem Landweg in Drittländer verhandeln.

Offene Kritik am Kurs Bidens kann sich die Bundesregierung derzeit kaum leisten. Aber Äußerungen von Unionskanzlerkandidat Armin Laschet dürften spiegeln, was auch viele in Berlin denken. Der hatte zwar Bidens Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft gelobt. Gerade deshalb habe ihn aber die Ankündigung enttäuscht, letztlich Trumps Abzugsplan umzusetzen, "ohne die Verbündeten umfassend an dieser folgenreichen Entscheidung zu beteiligen".

Für Deutschland und Europa folge daraus, dass es zwar immer am besten sei, sich mit den USA abzustimmen. Notfalls aber müsse "die EU in der Lage sein, ohne die US-Partner zu handeln" und einen Flughafen wie den in Kabul auch alleine sichern können, verlangte Laschet.

Selbst der Brite Wallace sagte, man bevorzuge die USA als militärischen Verbündeten, werde sich künftig aber auch Allianzen mit anderen Ländern suchen, die auf Interoperabilität fußten, nicht nur auf Abhängigkeit. Dabei hatten die Briten nach dem Brexit ihrer besonderen Beziehungen mit den USA größten Wert beigemessen.

In Frankreich predigt Emmanuel Macron schon lange das Mantra von der strategischen Autonomie der EU - fand darin bislang aber weder bei Kanzlerin Angela Merkel noch in Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) uneingeschränkte Unterstützung. Diese Debatte wird nach der Bundestagswahl ebenso unausweichlich sein wie eine Aufarbeitung der Evakuierungsmission und des Afghanistaneinsatzes insgesamt.

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