Harsche Worte sind es, die Marcus Grotian für die Bundesregierung findet. Der Umgang mit den Ortskräften in Afghanistan sei für ihn ein "Fiasko in unvorstellbarem Ausmaß". Grotian ist Bundeswehroffizier, er war selbst in Afghanistan, in Kundus stationiert. Und er ist Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte, versucht mit seiner Hilfsorganisation schon lange, Ortskräfte zu unterstützen und sie nach Deutschland zu holen. Häufig erfolglos: Zu groß seien die bürokratischen Hürden, zu lange wurden die Warnungen ignoriert, bis die Lage am Hindukusch außer Kontrolle geriet.
Grotian wirft der Bundesregierung an diesem Dienstag, an dem die G-7-Staaten um die Rettungsmission in Kabul ringen, "unterlassene Hilfeleistung" vor, insbesondere das Kanzleramt kritisiert er scharf vor der Bundespressekonferenz in Berlin. Er selbst habe fünf Briefe an die Kanzlerin geschrieben und Hilfe angeboten - reagiert wurde darauf nicht. Das Bundeskanzleramt hätte eingreifen und sich für die afghanischen Ortskräfte einsetzen können, so der Hauptmann. "Das hat es aber nicht getan."
Deshalb seien er und seine Mitstreiter "überwältigt und verbittert", sagt Grotian weiter. Überwältigt von den zahllosen Hilfsangeboten und der Empathie der Menschen in Deutschland. Verbittert über den Evakuierungsplan der Bundesregierung, weil die Warnsignale offenbar missachtet und Verantwortlichkeiten abgeschoben wurden. Grotian sei als Staatsbürger in Uniform "fassungslos", dass die Regierung auch nach der Katastrophe die Verantwortung von sich weise. "Wir sind von der eigenen Regierung moralisch verletzt. Und das ist beschämend", sagt er. Seiner Einschätzung nach hat "Passivität" zu dem Desaster beigetragen.
Alle Ortskräfte sollten antragsberechtigt sein, so die Forderung
Insgesamt gehe es um 8000 Ortskräfte und Angehörige. Davon dürften knapp 2000 bereits ausgeflogen sein, so Grotian, die restlichen 6000 aber seien in Afghanistan "bewusst zurückgelassen" worden. Diese Menschen hätte man im Juni und Juli, spätestens beim Abzug der Bundeswehr aus Masar-i-Scharif, in Sicherheit bringen müssen, so der Offizier. Er fordert nun, dass alles Nötige getan wird, um so viele Ortskräfte wie möglich aus Afghanistan zu holen, ohne "bürokratische Hürden", die der Grund dafür seien, dass noch "in dieser Minute Menschen abgelehnt werden, obwohl sie für uns gearbeitet haben". Seiner Meinung nach sollten alle Ortskräfte antragsberechtigt sein, und nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen.
Vor dem Mikro spricht Marcus Grotian entschlossen, seine Worte sind laut und deutlich, seine Wut ersichtlich. Dann macht er eine kurze Pause, sucht etwas auf dem Handy und zeigt ein Bild. Dort ist ein Baby zu sehen, ein Mädchen, geboren im Juli. Seine Mutter konnte davor nicht ausfliegen, weil die Fluggesellschaft keine hochschwangeren Frauen an Bord zulässt, nach der Geburt wurde kein Personaldokument erstellt. Die Familie sitzt noch in Kabul, die Eltern dürfen beide ausreisen, das Baby hat aber nach wie vor kein Visum. Später fragt eine Journalistin Grotian, ob er für seine Kritik Konsequenzen dienstlicher Art fürchtet. "Ich fürchte, dass wir viele Menschen in Afghanistan zurücklassen", sagt er. Der Rest komme später.