Historisches vom Starnberger See:Alltagsgeschichten aus Villen und Höfen

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Landwirtschaft um 1940: Zwei Ochsen, die für die Feldarbeit angeschafft wurden, beim Mähen in Ammerland. (Foto: Privat/oh)

Im dritten Band der Münsinger Chronik erinnern sich Einwohner an die Kriegs- und Nachkriegszeit. Sie liefern wertvolle Einblicke in einstige bäuerliche oder großbürgerliche Haushalte.

Von Benjamin Engel, Münsing

Die historischen Villen an der Seeuferstraße in Ambach und den Ort Degerndorf trennen nur um die vier Kilometer Luftlinie - und doch scheinen Welten zwischen den Leben so mancher Bewohner zu liegen.

Da ist zum Beispiel Veronika Kreuzhage. Am Ende des Zweiten Weltkriegs ist sie acht Jahre alt. Das Mädchen lebt mit ihrer Familie - der Vater ist TÜV-Ingenieur, die Mutter war in jungen Jahren Schauspielerin - in der inzwischen nicht mehr existierenden Villa "Erika" direkt am Ostufer des Starnberger Sees. Es ist ein musikalisches Haus. Kreuzhage erinnert sich, wie ihre Tante Klavier übt und ein junger Bursche mit seiner Violine vorbeikommt. Es handelt sich um den Violinisten Dénes Zsigmondy (1922-2014), der Jahrzehnte später die Holzhauser Musiktage initiieren wird. Talentiert ist der junge Mann, sonst würde ihm Veronika Kreuzhages Tante nicht die Guarneri-Geige aus dem Haushalt zum Spielen überlassen. Später wird Veronika Kreuzhage als Au-pair-Mädchen nach New York gehen, später Pressechefin von Bertelsmann werden und am Münchner Residenztheater arbeiten.

Idyll vor der Villa: Veronika Kreuzhage als Kleinkind mit ihrer Großmutter Minna Schulze und Hund Mida. (Foto: Privat/oh)

In einer Degerndorfer Bauernfamilie ist Katharina Eckert, damals Geiger, die im August 1934 geboren wurde, bei Kriegsende fast elf Jahre alt. Sie hat eine Schwester und zwei Brüder, von denen einer mit sechs Jahren an einem Blinddarmdurchbruch stirbt. Am Hof muss Katharina als dann als Älteste viel mitarbeiten - von der Küche bis zum Melken der Kühe im Stall. Viel Freizeit bleibt ihr nicht. Das liegt auch daran, dass die Mutter krank ist, unter anderem einen offenen Fuß hat, Katharina also zu Hause unterstützen muss. Die Bildungskarriere reicht bis zur Hauswirtschaftsschule in Polling - eine schöne Zeit für Katharina Eckert. Sie würde gerne professionell schneidern und nähen lernen, aber das geht nicht.

Schließlich heiratet sie Anfang der 1960er-Jahre Josef Eckert, der im Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie aus dem böhmischen Marienbad geflohen und in Degerndorf gelandet ist. Der Franzose Charles, der zur NS-Zeit dem Hof von Katharinas Familie als Zwangsarbeiter zugeteilt worden war, hatte das junge Ehepaar zur Hochzeitsreise in seine Heimat eingeladen. Doch dafür reicht das Geld nicht.

Josef und Katharina Eckert (Mitte) bei ihrer Hochzeit im Jahr 1961. links Vater Ludwig Geiger, rechts Mutter Katharina. (Foto: Privat/oh)

Das sind nur zwei exemplarisch angerissene erzählte Erinnerungen aus dem dritten Band der Chronik Münsing, der im vergangenen November erschienen ist. Bettina Hecke und Fritz Wagner vom Ambacher Verlag sowie Manfred Hummel, Ernst Grünwald und Gerhard Metzger haben dafür 25 Interviews mit Münsingerinnen und Münsingern der Jahrgänge 1924 bis 1942 geführt. Sie wollten die Erinnerungen noch lebender Zeitzeugen an die Zeit der NS-Diktatur und die Nachkriegsphase schriftlich festhalten. So entfaltet sich ein lebendiges wie informatives Tableau der damaligen Zeitumstände, wenn auch subjektiv gefärbt.

Trotzdem hat sich das Projektteam für die Form der sogenannten "Oral History" - also der mündlichen Geschichte - entschieden. Das liegt einerseits daran, dass kaum Quellen aus der NS-Zeit zwischen 1933 und 1945 für Münsing existieren. Vielfach wurden die Schriftstücke vernichtet. So seien etwa die Seiten aus der Degerndorfer Schulchronik für diese zwölf Jahre einfach herausgeschnitten worden, schreibt der aus Münsing stammende Historiker Johannes Bernwieser, der die Chronikreihe hauptverantwortlich herausgibt, im Vorwort. Der dritte Band sei als Sammlung autobiografischer Erzählungen zum Leben in der dörflichen Gemeinschaft zu verstehen. Die sollten festgehalten werden, bevor diese unwiederbringlich verloren gingen.

Nach dem Krieg endlich wieder Vergnügen: Tanz um den Maibaum vor der Kapelle St. Coloman in Weipertshausen. (Foto: Privat/oh)

Der Schrecken des Krieges bricht in das Leben auf dem Land vor allem dann ein, wenn Dorfbewohner als Soldaten ums Leben kommen. Auf den Höfen und in den Haushalten sind vielfach Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit eingesetzt. Mit manchen halten die einheimischen Familien sogar über das Kriegsende hinaus Kontakt. Es gibt überzeugte Nazis und andere, die lieber den Mund halten. Zu Ersteren dürfte der Holzhauser Lehrer in SA-Uniform mit Parteiabzeichen am Revers gezählt haben, von dem Veronika Kreuzhage berichtet. Manchmal fallen Bomben in den Starnberger See, danach treiben haufenweise tote Fische auf der Oberfläche. Einmal stürzt ein britischer Bomber bei Degerndorf ab. Zum Dank, dass dieser das Dorf verfehlte, wurde die Maria-Dank-Kapelle auf dem Fürst Tegernberg errichtet.

Als US-amerikanische Soldaten nach Münsing kommen, lassen sie vor dem Ambacher Gasthaus Zum Fischmeister Männer antreten, die ihre Kleidung mit früheren KZ-Insassen wechseln sollen. Viele Kinder bekommen von den US-Soldaten Orangen oder Schokolade geschenkt.

Der junge Percy Adlon isst beim Nachbarn Dampfnudeln

Die Erzählungen zeigen vor allem, wie bescheidener das Leben der Bauernfamilien einst war. Vieles war damals noch Handarbeit. Die Bauern bestellten die Felder teils mit Ochsen- und Pferdegespannen und hielten nur wenige Kühe. Der Aktionsradius war meist aufs Dorf begrenzt, die Freizeitaktivitäten spärlich. Zum Baden gingen die jungen Leute an den Starnberger See (Häkel-Bikini inklusive), tanzten beim Maibaumaufstellen oder in den umliegenden Wirtshäusern. Dafür hatten die Bauern immer etwas zu essen.

Für den jungen Percy Adlon - Spross der Berliner Hoteldynastie Adlon und Filmemacher - war dies als Bub so verlockend, dass er immer vor der Tür der Nachbarn Bernwieser bereitstand, wenn es mittags nach Dampfnudeln roch. Der Bub durfte mitessen. Dass der Löffel nur noch halb und vorne abgebrochen war, störte ihn nicht. So gut schmeckte ihm die Mehlspeise, zu der erst etwas Saures wie Gemüse und dann Süßes wie Apfelmus gereicht wurde.

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Deutlich wird, wie der Zweite Weltkrieg das Sozialgefüge im Dorf veränderte. Geflüchtete wurden in vielen Häusern einquartiert. Die Einwohnerzahlen explodierten. Viele der einstigen, historischen Höfe sind aus dem Ortsbild verschwunden. Doch der Modernisierungsschub eröffnete auch berufliche Karrierechancen, wie mache der Erzählungen zeigen. Die Mobilität ist wesentlich größer geworden - und Staus vom Ambacher Erholungsgelände bis nach Münsing gab es schon vor Jahrzehnten, wie eine der vielen Fotografien zeigt.

Feine Unterschiede sind bis heute geblieben. Als Veronika Kreuzhage ihre Familie stolz als Einheimische bezeichnet, weil schon die fünfte Generation in Ambach sei, antwortet ein Senior aus der benachbarten Fischerfamilie nur: "Wos? A' geh'! Ambacher scho', vielleicht, aber ös seid's doch koane Einheimischen net."

Chronik Münsing, Band III, Erzählte Erinnerungen; Lesung am Freitag, 26. April, 19 Uhr, im Rittersaal des Schlosses Kempfenhausen. Alois Brustmann und Heinz Rothenfußer begleiten den Abend musikalisch. Der Band ist im Buchhandel erhältlich.

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