Austro-Pop-Legenden:Eiszapfen im Tauwetter

Lesezeit: 4 min

"Ein altes Herz auf Reisen": Thomas Spitzer, der zwischendurch in Kenia lebt, will sich nicht zur Ruhe setzen. Er plant etwa ein Europa-Reisebuch. (Foto: Nora Spitzer)

Thomas Spitzer kann nach dem Ende seiner "Ersten Allgemeinen Verunsicherung" endlich seine sensible Seite zeigen: Als Gast auf Abschiedstour seines Grantler-Freundes Gert Steinbäcker und in einem Sammelband bildreicher Liebesbriefe.

Von Michael Zirnstein

Es ist so sehr zum Verzweifeln, dass es schon wieder komisch ist. Das ist oft so bei Thomas Spitzer. Das ist dieser Österreicher, der am 8. Juli 2005 in einem Hotel an der Neuen Messe München abgestiegen ist, wobei Absteige wäre für ihn hier keine poetisch hinreichende Beschreibung. "Das Hotel hat den Tetra-Pack-Charme eines Sporthotels in Niederösterreich mit dem Namen ,Tennisfarm - Ternitz', oder so", schreibt er. Während er sich also Strafen ausdenkt, die den Architekten und den Dekorationskunstmaler des Gebäudes künftig von der Arbeit abhalten mögen, zeichnet er sich selber.

Der Mann zeichnet sich, wie er "nackend" vor dem Hotelzimmerspiegel steht und sich mit Habichtsblick selber zeichnet. Er kann das, er war Grafiker Anfang der Siebzigerjahre und studierte dann Kunst in Wien, wo er mit der dortigen Kreativenszene bekannt wurde und eine vogelwilde Rockkabarettgruppe namens Erste Allgemeine Verunsicherung gründete, die textlich und grafisch fünf Jahrzehnte lang von Spitzers spitzer Feder bestens leben sollte. Die komischen Anti-Helden der Nation waren sie, auch "draußen" bei den deutschen Nachbarn. Das Gelächter über den "Märchenprinz" oder den "Ba-ba-banküberfall" übertönte Spitzers Klagelaute.

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So um das Jahr 2005 herum war es besonders arg. Seine Herzallerliebste hatte sich getrennt. "Bis dahin wurde ich noch nie verlassen. Ich musste lernen: die wichtigste Übung, jemanden lieben zu können, ohne zu besitzen. Das habe ich Jahrzehnte davor schon gewusst - aber nur theoretisch", erinnert er sich im Interview mit der SZ, "ich bin durchs Jammertal des Selbstmitleides gekrochen." In diesem "selbsttherapeutischen Trauerprozess" schrieb der "Liebesblöde" an seine "Tollkirsche", seine "Rosenblüte", sein "Pantha-Reh" 500 Briefe voller Schwüre, Gedichte, Geschichten und Zeichnungen, alles verflochten mit Erinnerungen und dem Rock'n'Roll-Tourneeleben. Spitzer einmal von innen nach außen gekrempelt, unverblümt, aber eben auch sehr blumig: "Du klebst wie ein Eiszapfen an meiner Zunge, den man nicht totlutschen kann."

Damals gab es noch Faxe. Ein Glück. Denn er schickte die Briefe zwar ab, behielt aber die Originale (zum Teil auf Hotelpapier). Und die schimmelten vor sich hin einer Kiste - bis sie Spitzers neue, 42 Jahre jüngere und jetzige Ehefrau Nora fand. Sie wollte alles Liebesleid zu einem Buch bündeln: "Du bist immer der Paradehumorist des Landes gewesen, der politisch korrekte Gesellschaftskritiker, jetzt könnten wir einmal deine Verletzbarkeit herzeigen." Spitzer fand das Ansinnen erst einmal entblößend, dann sagte er: "Wen soll ich noch bluffen? Also, why not!?" Nora Spitzer suchte also die schönsten Abgründe seines Jammergebirges heraus, es sollte ihr Geschenk zu Thomas' 70. Geburtstag werden. Als mächtiger "Liebesbeweis" lag es da vor ihm am 6. April 2023: aufgeschlagen 70 Zentimeter breit, 200 Seiten, dabei eine CD (darauf musste er einige Texte allerdings selber singen und einsprechen).

Die Leiden das alten Rockers: Auch beim Musizieren mit der EAV plagt Thomas Spitzer die verlorene Liebe, wie er in einem der Briefe an "Rona" zeichnete. (Foto: Thomas Spitzer Ideas Verlag)

"Geht ein altes Herz auf Reisen" (Ideas Edition) nimmt den Betrachter wirklich mit: nach St. Charles de Peralta, wo sich der bekennende "Chaotolik" nach einer "Zwerg-Predigt" von einem "inselbekannten Exorzisten" und "Schrumpelschamanen" die Besessenheit von seiner Göttin austreiben lassen will; oder nach Kenia, auf eine Nachtfahrt in die Shimba-Hills, wo Schlaglöcher seinen sonst makellosen Strich zittern lassen und alte Geschichten aufrütteln: In einem mäandernden Text zwischen Conrads "Herz der Finsternis" und Hunter S. Thompsons "Rum Diarys" fabuliert er für Nora (und den heutigen Leser) nebenbei die wahre Geschichte vom "Sandlerkönig Eberhard".

Das war, sagt Spitzer heute, einer der wenigen EAV-Hits, in denen er so etwas wie Gefühle betexten durfte. Er hatte sich viel mit dem Wesentlichen, nämlich dem Wesen des Menschen beschäftigt, dass Männer auch Gefühle zeigen können, hätte "lieber Liebeslieder geschrieben", aber sein "kongenialer Partner" ließ ihn nicht. Einige Motive und Reime aus der großen Trennungsleid-Phase schafften es immerhin - wohl aufgrund der Fülle - auf das Album "Amore XXL", aber schon beim zweiten Konzert zur Tour soll Sänger Klaus Eberhartinger den Autor angeranzt haben: "Spitzer, für deine Krankheiten kann ich nichts."

Eine makellose Handschrift hat Thomas Spitzer seit seiner Zeit als Grafiker - im Nachhinein wurde an Briefen nichts geschönt. (Foto: Thomas Spitzer / Ideas Verlag)

Bei "allen segensreichen Erfolgen" empfand der Gründer seine Band als "Korsett". "Deswegen war ich immer dankbar, wenn ich für andere machen durfte, was bei der EAV nicht erwünscht war." Und da gab es damals schon viele, nicht zuletzt Udo Jürgens, für den er etwa "Café Größenwahn" schrieb oder dessen einzigen Hit in den Neunzigerjahren, "Na und".

Und mit noch einem der ganz großen Österreicher hielt er sich die Treue: Gert Steinbäcker. Der war ja nicht nur das erste S von STS, sondern auch der zweite Sänger der EAV von 1979 bis 1983, und schon zuvor hatte er zusammen mit Spitzer drei "richtige Theaterstücke" gemacht ("so ein No-Future-Märchen") und zuallererst bei Mephisto gespielt, "nicht der besten", wohl aber "der ersten und lautesten Rockband der Steiermark".

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Als Steinbäcker vor seiner "Farewell-Tour" durch Österreich also bei Spitzer anfragte: "Wir haben gemeinsam unrühmlich begonnen, lass es uns gemeinsam mit Würde zu Ende bringen", sagte sein alter Weggefährte: "Bin dabei." Auch jetzt bei den nachgeschobenen Abschiedsterminen in Bayern spielt Spitzer bei drei Stücken (etwa bei "Total verunsichert" aus der gemeinsamen EAV-Zeit) die Rockgitarre. "Danach darf ich sofort wieder zu meinem Rotwein und zur Zigarette", und dann sitzt er auch gerne mit seinem Haberer zusammen: "Ich freue mich immer, diesen zwidernen Grantler zu sehen. Jemand, der so gute Liebeslieder schreiben kann wie er, kann kein schlechter Mensch sein."

"In Würde zu Ende bringen": Gert Steinbäcker, das erste S von "STS", bittet seinen alten Weggefährten Thomas Spitzer auf der Abschiedstournee für drei Songs auf die Bühne. (Foto: Christian Jungwirth)

Das gilt natürlich auch für einen, der so schöne Liebesbriefe verfasst. Wobei, es geht immer noch lieber. "Man soll die Hoffnung nie aufgeben, dass man kurz vor dem Urnengang doch ein besserer Mensch werden kann", sagt Spitzer, der seiner Tochter "jetzt ein besserer Vater sein" mag. Und 50, 60 unveröffentlichte Songs habe er noch im EAV-Endlager, für die er aber "sicher ned" die alte Band reaktivieren, sondern "lieber einen jungen humorbegabten Musiker" finden werde, wie seinen musikalischen Ziehsohn Paul Pizzera. Sollte seine Nora ihn je dazu bringen, ein Solo-Album zu machen, dann werde er da seine "emotionale Seite ausleben". Aber vor allem will er, "bis der Sensenvater mich niedermäht", mit seiner Lieblingsbeschäftigung fortfahren: "Zeichnen, denken und vor allem leiden, ist hervorragend."

Eine Angst ist wohl unbegründet, die den Nackten damals vor dem Hotelzimmerspiegel beschlich, als er mangels Unterlage seinen "Luxusbody" "dattrig" wie auf eine labbrige Pizza hinkritzelte: "Auf jeden Fall kann ich mir jetzt schon ausmalen, welchen furiosen Strich ich haben werde, wenn ich dereinst mit 75 einen Pensionistenmalkurs der (Spät-)Sommerakademie in Fieberbrünnl abhalten werde. Und da wirst Du, meine Liebe, gerade 47 sein. Es ist zum Verzweifeln."

Thomas Spitzer auf der Abschiedstour von Gert Steinbäcker, 8. Nov. Rosenheim, 10. & 11. München, Circus Krone, 13. Regensburg, 14. & 17. Nov. Regensburg, 16. Bamberg, 18. Passau

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