Mario Rados hat schon recht genau im Kopf, wie es hier einmal aussehen wird, gegen Ende des Jahrzehnts. Er steht vor dem fertigen Wohnhaus im Werksviertel, dessen Bau er als Projektleiter begleitet hat, und zeigt in die riesige Grube nebenan. "Hier entsteht das Projekt von Rock Capital", erzählt Rados - ein Komplex mit mindestens 250 Wohnungen, der direkt an die weiße Brandmauer seines Hauses anschließen wird. Ein Teil der Grube wird zugeschüttet, "da liegt dann der Park".
Etwas später steht Rados im obersten Stock seines Hauses und schaut in die Ferne, wo die Alpenkette glänzt in Sonne und Schnee. Wenn direkt gegenüber das größte Wohnbauprojekt im Werksviertel mit etwa 600 Einheiten hochgezogen ist, dann, sagt Rados, "hat man diese Aussicht nur noch von hier oben".
Mario Rados arbeitet für die Immobiliensparte von Rohde & Schwarz, einem der großen Grundeigentümer im Werksviertel. Das Unternehmen hat in diesem Jahr 25 Wohnungen fertiggestellt, in einem gemeinsamen Projekt mit der Familie Titius, der Betreiberin der Großmarktkette Hamberger, die 50 Wohnungen gebaut hat.
Nun steht dieses neue Mietshaus einsam da, inmitten von Brachland, das sich in ein paar Jahren in gewaltige Baustellen verwandeln wird. Wohnen an der Baugrube, mit Panoramablick auf Zeit - Rados weiß, dass die Lage etwas speziell ist. "Wir haben uns überlegt: Kriegen wir die Wohnungen los?", erzählt er. "Oder müssen wir bei der Miete erstmal runtergehen?"
Newsletter abonnieren:München heute
Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.
Was wurde das Werksviertel nicht gefeiert und besungen: Aus einem 40 Hektar großen Industrieareal - früher unter anderem Pfanni und Optimolwerke - soll ein Stadtquartier mit innovativer Architektur werden, mit Raum für großes und kleines Gewerbe, für kleine und große Kultur - und mit etwa 1150 Wohnungen, also neuem Lebensraum für 2600 Menschen, in bester Lage direkt am Ostbahnhof.
2017 schuf der Stadtrat das nötige Baurecht, 2019 war die Verteilung der Grundstücke abgeschlossen, bis Ende 2024 sollte die Bebauung zumindest großteils fertig sein, so war es vertraglich vereinbart. Die Hotels und die meisten Bürogebäude sind auch bezogen oder bald so weit.
Nur die beiden kleinsten Wohnprojekte sind fertig
Beim Wohnraum aber sind nur die beiden kleinsten Projekte bezogen, sieben Prozent aller Einheiten. Der Rest, darunter mindestens 340 bezahlbare Wohnungen der städtischen GWG, wird frühestens von 2027 an fertig, wie eine Umfrage der SZ unter den Bauherren und beim Planungsreferat ergeben hat. Vom Erteilen des Baurechts für die Wohnungen bis zu ihrer Fertigstellung werden also zehn Jahre und mehr vergehen. Wie kann das sein?
Es sind, wie so oft, unterschiedliche Gründe. Am besten versteht man sie, wenn man jedes Bauvorhaben für sich anschaut:
Städtisches Wohnen: Für die von hohen Mieten geplagte Bevölkerung Münchens am wichtigsten sind die zwei Projekte der GWG. Im Dezember hat der Stadtrat das kleinere Baufeld (für etwa 125 Wohnungen) offiziell an die GWG übergeben. Allerdings kann die Planung noch nicht richtig losgehen. Denn das Grundstück grenzt an die Scholle, auf der derzeit das Riesenrad steht und auf der eigentlich der Freistaat sein Konzerthaus bauen wollte.
Das würde mit seiner Höhe von 45 Metern das GWG-Gebäude so sehr verschatten, dass die unteren Geschosse sich "dann nicht für eine Wohnnutzung" eignen, erklärt ein Sprecher des kommunalen Wohnungsunternehmens. Deshalb könne man das Gebäude erst dann wirklich planen, wenn "die Dimensionierung des Konzerthauses verlässlich vorliegt".
Ob der Freistaat das aber baut, ist seit der von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ausgerufenen "Denkpause" ungewiss. Sollte er sich dagegen entscheiden, geht die GWG davon aus, dass dann auf dem Nachbargrundstück ein deutlich niedrigeres Gebäude entstehen wird, wie es eigentlich auch im Bebauungsplan festgelegt war und das dann nicht mit Wohnungen nebenan kollidieren würde. Das zweite künftige GWG-Baufeld (für etwa 215 Wohnungen) muss erst noch von den Stadtwerken freigemacht werden, es soll weitgehend parallel zum ersten bebaut werden.
Derzeit geht die GWG davon aus, 2026 den Bau zu beginnen und 2028/2029 fertig zu werden. Das bedeutet eine erhebliche Verzögerung gegenüber dem bisher letzten Stand.
Vor einem Jahr hatte Stadtbaurätin Elisabeth Merk auf eine Stadtratsanfrage von FDP/Bayernpartei zu den GWG-Projekten im Werksviertel geantwortet: "Mit einem Baubeginn ist ab 2024 zu rechnen." Darin schrieb sie auch von Überlegungen, die Geschossfläche zu erhöhen, "um so zusätzlichen Wohnraum zu errichten".
Grundlage ist eine neue Regelung im Baugesetzbuch des Bundes, die es Kommunen erleichtert, von den eigentlich rechtsverbindlichen Bebauungsplänen abzuweichen, um mehr Wohnungsbau zu ermöglichen. Ob und wie viele Wohnungen die GWG zusätzlich bauen kann, wird noch geprüft.
Wohnturm: Auf mehr Baurecht hoffen auch die Bauherren von "One Rock", dem mit einem 65 Meter hohen Turm sichtbarsten Wohnbauprojekt im Werksviertel. Eigentlich hätten die Investoren Rock Capital und Terrafinanz ihr Vorhaben Ende 2024 fertig haben müssen, so war es im städtebaulichen Vertrag mit der Stadt vereinbart. Aber Christian Lealahabumrung, Geschäftsführender Gesellschafter von Rock Capital, sagt, die Corona-Pandemie habe die Zeitpläne durcheinander gebracht. Die Stadt hat eine Verlängerung bis 2028 gewährt.
Beide Seiten streben zudem an, dass mehr als die bisher geplanten etwa 250 Wohnungen, davon 30 Prozent gefördert, entstehen können. Das soll aber nicht nur den Investoren zugute kommen. Eine Sprecherin von Stadtbaurätin Merk erklärt, man wolle "insbesondere zusätzlich weiteren dringend benötigten bezahlbaren Wohnraum schaffen".
Dem Vernehmen nach will die Stadt mit dem zusätzlichen Baurecht zumindest teilweise kompensieren, dass der Investor eines Projekts direkt neben dem Werksviertel den Bau von 360 Wohnungen hatte fallen lassen und dafür lieber noch mehr Büros baute - er ließ sich auch von Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) nicht umstimmen.
Wie viel größer "One Rock" werden kann, sagt die Stadt noch nicht. Lealahabumrung nennt als groben Richtwert "25 bis 50 Wohnungen mehr". Ein Ergebnis soll laut Planungsreferat im ersten Halbjahr 2023 vorliegen, das müsse dann auch nicht den Stadtrat passieren, sondern könne direkt von der Verwaltung festgelegt werden.
"Wir wollen zeitnah bauen", beteuert Lealahabumrung. Wenn man frühzeitig das definitive Baurecht erfahre, "dann können wir noch 2023 den Bauantrag einreichen und bestenfalls 2024 anfangen zu bauen". Er rechnet mit einer Bauzeit von zweieinhalb Jahren, woraus sich ein Fertigstellungszeitpunkt ab 2027 ergibt.
"Werkshöfe": Diesen Projektnamen trägt das größte Wohnbauprojekt im Werksviertel. Als Bauherr dahinter steht das Unternehmen Otec des Pfanni-Erben Werner Eckart, der auch das "Werksviertel-Mitte" mit dem 80 Meter hohen Hotelturm samt Kletterhalle und dem Werk 12 mit den großen "AAHHH" und PUH" an der Fassade betreibt.
Auch die Otec hat überlegt, mehr Baurecht anzustreben, das aber letztlich verworfen. "Wir arbeiten mit dem von der Stadt genehmigten Vorbescheid für insgesamt knapp 600 Wohnungen intensiv weiter", sagt Otec-Geschäftsführer Timo Schneckenburger. Auch hier werden knapp 30 Prozent der Wohnungen gefördert sein. Sie sollen, kündigt Schneckenburger an, auf die Baukörper verteilt und mit frei finanzierten Mietwohnungen gemischt werden.
Zum Zeitplan sagt er: "Wir wollen den ersten Bauabschnitt 2027 fertigstellen, den zweiten nicht sehr viel später." Auch er führt als Begründung für die lange Planungszeit die Corona-Krise an, "die bei uns enorm viele Kapazitäten gerade im Bereich der Hotels, der Gastronomie, des Werk-7-Theaters und der Tonhalle gebunden hat".
Stadtbaurätin Merk sieht in der Planungszeit für das Wohnen im Werksviertel übrigens kein Problem. "Es handelt sich hier um eine durchaus übliche Zeitspanne für die Umsetzung eines solch komplexen und qualitätsvollen Quartiers", erklärt sie.
Mario Rados Zweifel, wie das Wohngebäude von Rohde & Schwarz ankommt, haben sich jedenfalls nicht bestätigt. Als es an die Vermietung der 40 bis 75 Quadratmeter großen Einheiten ging, hätten sie es doch erst einmal mit Marktpreisen versucht, erzählt Rados.
"Wir haben uns an den Neubaumieten in Haidhausen orientiert und sind etwa einen Euro pro Quadratmeter drunter geblieben." So landeten sie bei 27 bis 29 Euro Euro pro Quadratmeter, inklusive Küche. Siehe da, das Haus war in kurzer Zeit voll vermietet. Und der Alpenblick bleibt den Bewohnerinnen und Bewohnern noch ein paar Jahre erhalten.