Sexualisierte Gewalt an Kindern:Ex-Polizist soll Missbrauchsfälle untersuchen

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Die Stadt München startet eine umfangreiche Aufarbeitung von Gewalt an Kindern. Eine Experten-Kommission soll sich rasch um Entschädigung kümmern und auch klären, ob es pädophile Netzwerke gegeben hat.

Von Bernd Kastner und Rainer Stadler

Der Stadtrat wird voraussichtlich in der kommenden Woche die umfangreichste Untersuchung von Kindesmissbrauch starten, die es je in München gab. Am Dienstag soll eine Expertenkommission berufen werden, die sexualisierte Gewalt an Kindern aufarbeiten soll. Leiten soll die Aufarbeitung der ehemalige Kriminalbeamte Ignaz Raab, Spezialist für die Aufklärung von Sexualdelikten. Untersucht werden soll mehr als ein halbes Jahrhundert, nämlich die Jahre von 1945 bis 1999.

Tausende Mädchen und Jungen standen in dieser Zeit unter der Obhut der Stadt München. Wie viele von ihnen litten unter Gewalt? Was lässt sich über die Täter noch herausfinden? Die Kommission soll nicht nur die städtischen Kinderheime in den Blick nehmen, sondern auch Häuser außerhalb Münchens ebenso wie Pflege- und Adoptivfamilien, in denen das Jugendamt Kinder unterbrachte. Zentraler Fokus der Aufarbeitung sollen "die Belange der Betroffenen" von Missbrauch sein, verspricht die Stadt. Möglichst rasch will man die Frage nach Entschädigungszahlungen klären.

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Einer Untersuchung zufolge soll in zwei SOS-Häusern ein Klima der Angst geherrscht haben. Eine der ehemaligen Mitarbeiterinnen widerspricht nun. Klar ist: Über Jahrzehnte hat der Verein versucht, Missstände in vielen Einrichtungen unter der Decke zu halten.

Von Bernd Kastner

Auf Antrag der Fraktionen von Grünen und SPD hatte der Stadtrat im Juli die Gründung der Kommission beschlossen. Sie solle eine "lückenlose Darstellung" aller Verfehlungen erarbeiten. Anlass war die Berichterstattung in der SZ über Missbrauchsfälle in den 60er- und 70er-Jahren, vor allem in Heimen in und um München. Frauen und Männer, die in ihrer Kindheit in Oberammergau, Feldafing und München in Heimen lebten, berichteten, was ihnen angetan wurde. Täter und Mitwisser sollen Männer ebenso wie Frauen gewesen sein, etwa ein früherer Feldafinger Pfarrer oder ein Pater, der regelmäßig in Oberammergau Urlaub machte. Die katholische Kirche hat mehreren Betroffenen Entschädigungen gezahlt. Inzwischen hat auch der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern eine Untersuchung seines früheren Hauses in Feldafing gestartet.

Eine erste Aufarbeitung der Gewalt an Kindern in städtischer Obhut war vor etwa einem Jahrzehnt an der Oberfläche geblieben. Eine einzige Historikerin war beauftragt, 25 Jahre in den drei städtischen Heimen in München und Oberammergau zu untersuchen. Die dabei gesammelten Hinweise auf Missbrauch, körperliche und psychische Gewalt lösten keine tiefergehenden Recherchen aus. Das Sozialreferat sehe sich, so heißt es jetzt in der Vorlage für den Kinder- und Jugendhilfeausschuss, "als für die Missstände mitverantwortliche Institution" auch in der Verantwortung für den Aufarbeitungsprozess. Diesen wolle man "so weit als möglich" in die Hände von Expertinnen und Experten legen, um eine "größtmögliche Unabhängigkeit" zu gewährleisten.

Insgesamt sollen in der Kommission 14 Fachleute mitarbeiten. Zwei Personen sollen aus dem Kreis der Betroffenen kommen, die Kommission soll sie demnächst selbst auswählen. Bereits berufen soll der Stadtrat kommenden Dienstag diese Mitglieder: Ignaz Raab, bis Mitte des Jahres Chef des für Sexualdelikte zuständigen Kommissariats im Polizeipräsidium; Christine Strobl, bis 2020 als Bürgermeisterin für Soziales zuständig; Petra Schmid-Urban, ehemalige Stadtdirektorin und damit Vize-Chefin im Sozialreferat; Jörg Jaegers, selbständiger Traumatherapeut aus Mainz; Carola Baumgartner vom Weißen Ring in Ebersberg; Heiner Keupp, emeritierter Professor für Sozialpsychologie und Experte für die Aufarbeitung von Missbrauchskomplexen; Christine Rädlinger, Historikerin und Autorin des 2014 erschienenen Buches "Weihnachten war immer sehr schön" mit den Ergebnissen ihrer Recherchen zu den städtischen Heimen.

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Noch nicht benannt sind die Vertreter des Sozialreferats und der Wohlfahrtsverbände. Cornelia Abeltshauser vom Stadtjugendamt soll die Geschäftsführung der Kommission übernehmen. Ein unabhängiges Institut soll später die eigentlichen Untersuchungen nach wissenschaftlichen Kriterien durchführen.

Ausdrücklich soll die Kommission untersuchen, ob es pädophile Netzwerke gegeben hat, innerhalb derer Mädchen und Jungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts missbraucht wurden. Deshalb soll der ehemalige Kripobeamte Raab den Vorsitz übernehmen. Den Verdacht, dass es ein solches Netzwerk samt Mitwisser gegeben haben könnte, äußern mehrere ehemalige Heimkinder und private Rechercheure, die Missbrauchsfälle aus München und Umgebung zueinander in Zusammenhang gebracht haben. Es gibt einige Indizien, die einen solchen Verdacht nahelegen, Belege gibt es bislang nicht. Einer der Privatrechercheure ist der Mainzer Therapeut Jaegers, der auch Betroffene behandelt. Ihn sieht das Sozialreferat als jemanden, "der sich stark und glaubwürdig für die Interessen der Betroffenen einsetzen wird".

"Zügig und vorrangig" soll sich die Kommission mit der Frage von Entschädigungszahlungen beschäftigen, so der Wunsch des Sozialreferats. Dies sei wichtig, da die meisten Betroffenen im vorgerückten Alter und oft gesundheitlich angeschlagen seien. Innerhalb eines halben Jahres solle die Kommission "zu einem ersten Ergebnis" in Sachen Entschädigung kommen.

Eine finanzielle Beteiligung an Entschädigungen hatte die Stadtspitze bereits vor etwa einem Jahrzehnt versprochen. Man wollte Geld in den bundesweiten Fonds geben, aus dem ehemalige Heimkinder entschädigt wurden. Tatsächlich zahlte die Stadt aber nie in diesen Fonds ein, weil der Freistaat den städtischen Anteil übernahm. Dieses gebrochene Versprechen wird in der Stadtratsvorlage nicht erwähnt. Die Stadtspitze rechtfertigte sich bisher mit dem Hinweis, dass die Betroffene ja trotzdem das ihnen zustehende Geld bekommen hätten.

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