Zu niedrige Inzidenzen in München gemeldet:Reiter macht Druck aufs Gesundheitsreferat

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Testen lassen? Das geht in München. Nur falls man Corona-positiv ist, muss man Geduld mitbringen. Das Gesundheitsamt kommt mit dem Zählen nicht hinterher. (Foto: imago images/Ralph Peters)

Dass Corona-Infektionen in München seit Wochen zu spät erfasst werden, hält der Oberbürgermeister für "nicht akzeptabel". Die CSU spricht von einem "Skandal".

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"Blamabel, inakzeptabel und unverständlich": So nennt der CSU-Fraktionsvize und gesundheitspolitische Sprecher Hans Theiss die falschen Inzidenzen, die das städtische Gesundheitsreferat seit Tagen veröffentlicht. In einer Mitteilung legt die Fraktion am Dienstag nach und spricht von einem "Skandal". Die Stadt habe "den Kampf gegen die Corona-Zahlen und die Kontaktnachverfolgung verloren". Seit Wochen veröffentlicht die Stadt Werte, die niedriger liegen, als sie in Wirklichkeit sind, wie das Gesundheitsreferat selbst einräumt. Die Schuld, so Theiss, liege nicht bei den einzelnen Mitarbeitern. Es brauche offensichtlich mehr Personal; das Referat müsse bis zur Vollversammlung des Stadtrats in zwei Wochen den Stellenbedarf "ehrlich" beziffern und die Stellen dann auch beantragen.

Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) wird angesichts der falschen Zahlen offenbar langsam ungeduldig. Die Nachverfolgung von Kontakten und damit die Unterbrechung der Infektionsketten gehöre nach wie vor zu einem der wichtigsten Instrumente, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, sagte er am Dienstag. "Insofern ist es für mich nicht akzeptabel, dass dies derzeit nicht zuverlässig gelingt und unser Gesundheitsamt das Infektionsgeschehen in München nicht tagesaktuell darstellen kann." Er habe deshalb die Verwaltung bereits vor Wochen aufgefordert, alles zu tun, um auch bei den extrem hohen Infektionszahlen eine zeitnahe Kontaktnachverfolgung sicherzustellen - er gehe davon aus, dass dies nun auch gelinge.

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Seit Montag verstärken 50 Mitarbeiter der Bundeswehr das Gesundheitsreferat bei der Bearbeitung der Fälle und der Ermittlung von Kontaktpersonen in Schulen und Kitas. Außerdem stocke man "laufend und so schnell wie möglich Personal auf", sagte Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek (SPD). Als besonders aufwendig erweist sich laut Referat das Bearbeiten der Labormeldungen, weil aus denen nicht hervorgehe, ob es sich um neue Fälle oder nur um Zweit- oder Drittmeldungen nach weiteren Untersuchungen handle, etwa zur Virusvariante.

Bereits Ende September hatte das Gesundheitsreferat eingeräumt, dass es bei der Meldung von Infektionen hinterherhinkt. Damals lag die Inzidenz offiziell um die 90, Schätzungen gingen aufgrund des Meldeverzugs von etwa 120 aus. "Kurzfristiger Personalmangel" war damals der Grund, den man mit Sonderschichten und Verstärkung beheben wollte. Und jetzt? Während im ganzen Freistaat Rekordwerte bei den Neuansteckungen verzeichnet werden, sind die Inzidenzen in München in der vergangenen Wochen sogar gesunken. Am Dienstag weist das Robert-Koch-Institut (RKI) eine Inzidenz von 104,6 aus.

Ein realistischeres Bild zeigt sich jedoch erst, wenn die Meldelücke geschlossen wird: Vergangenen Dienstag etwa lag die offiziell veröffentlichte Inzidenz bei 132. In Wahrheit lag sie wohl bei 222 - dieser Wert ergibt sich, wenn man alle Infektionen bis zu diesem Stichtag hinzuzählt, die das Gesundheitsreferat seitdem nachträglich abgearbeitet und nachgemeldet hat. Diese Zahlen veröffentlicht auch das RKI.

Grundsätzlich ist eine Verzögerung im System eingebaut, weil die Daten von mehreren Behörden bearbeitet werden müssen. Die Flut an positiven Fällen sorgt dafür, dass dieser Verzug zurzeit keine Ausnahme, sondern die Regel ist. In München geht diese Schere offenbar besonders weit auseinander. In den vergangenen Tagen hat die Stadt stets viel mehr alte als neue Infektionen gemeldet. Am Dienstag etwa 533 Fälle, von denen 462 nachgemeldet waren. Am Montag waren es 262 Fälle, darunter 254 Nachmeldungen - also nur acht aktuelle Infektionen.

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Nun stauen sich die Fälle immer weiter - und gehen nicht in die offizielle Statistik des RKI ein. Die Sieben-Tage-Inzidenz, die daraus errechnet wird, und die jetzt schon wieder für mehrere Corona-Maßnahmen maßgeblich ist, ist damit dauerhaft zu niedrig. Und weil nur die letzten sieben Tage in die Rechnung eingehen, werden spätere Nachmeldungen nicht mehr berücksichtigt. Wer im Moment wissen will, wie stark sich das Virus in der Stadt ausbreitet, kann sich auf die offiziellen Zahlen nicht verlassen. Einen Hinweis könnten die umliegenden Landkreise geben: Im Landkreis München etwa liegt die Inzidenz aktuell bei 263,4 - und damit mehr als doppelt so hoch wie in der Stadt München.

Hannah Gerstenkorn, gesundheitspolitische Koordinatorin der Fraktion Grüne/Rosa Liste, zeigt sich angesichts der falschen Zahlen nachsichtig. Das Problem mit den Nachmeldungen sei nicht München-spezifisch, zudem sei die Aufgabe des Gesundheitsreferats in der Pandemiebewältigung "wesentlich größer" als in anderen, kleineren Kommunen. Das eigentliche Problem liegt für sie woanders: auf Bundes- und Landesebene, wo es über den Sommer verschlafen worden sei, die Weichen für den Winter zu stellen. Warnungen aus den Kliniken seien nicht ernst genommen worden. Sie wolle die falschen Inzidenzen nicht bagatellisieren, "aber besser wäre es, sie wären nicht so hoch".

Stefan Jagel (Linke) sagt, mit den falschen Zahlen wirke es zwar so, "als hätte die Stadt die Pandemie nicht im Griff". Das eigentliche Versagen liegt aber auch für ihn auf anderer Ebene. Seit Mitte September sei klar, dass die Intensivstationen erneut an die Belastungsgrenze kommen - da hätte die Politik früher und stärker eingreifen müssen. Die Fraktion FDP/Bayernpartei will indes per Anfrage wissen, warum die Infektionszahlen nicht tagesaktuell an das RKI gemeldet werden und wie es zu dem Verzug der Meldungen über einen längeren Zeitraum kam.

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