Einzelhandel nach Corona-Lockerungen:Abwarten und Fieber messen

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Die 13-jährige Romina lässt sich vor dem Apple-Store die Temperatur messen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Nach den Corona-Lockerungen bilden sich vor einigen Kaufhäusern in der Innenstadt lange Warteschlangen. Die Händler treibt bei aller Freude die Sorge vor neuen Schließungen um.

Von Christian Rost, München

Kwame Amoateng hat einen dieser mürbe machenden Jobs, die es neuerdings in den größeren Münchner Geschäften gibt: am Eingang stehen und Leute zählen. Zwei raus, zwei rein, einer raus, einer rein. So geht das den ganzen Tag, und für Amoateng ist kein Ende in Sicht. Mehr als 100 Meter lang ist am Montagvormittag die Schlange der Wartenden in der Neuhauser Straße vor TK Maxx, wo es auf rund 5000 Quadratmetern Marken zum Outlet-Preis gibt und der Sicherheitsmann aufpassen muss. 240 Leute dürfen maximal rein, natürlich nur mit Maske, die Corona-Regeln schreiben das vor. Von der Baustelle gegenüber - die Pflasterarbeiten ziehen sich durch die halbe Fußgängerzone - schauen Arbeiter herüber und kommentieren das Spektakel, das sich ihnen bietet: "Anstehen wie in der DDR."

Nach dem großen Lockdown dürfen nun wieder Läden mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 Quadratmetern vollständig öffnen. Für gerade beim jüngeren Publikum beliebte Stores rechnet sich der Neustart offenbar schon am ersten Tag, bei anderen herrscht dagegen Totentanz. Der Umsatz schwankt im Durchschnitt zwischen 40 bis 60 Prozent im Vergleich zum Normalgeschäft, schätzt Bernd Ohlmann vom Handelsverband Bayern.

Die Innenstadt füllt sich wieder: Vor den Geschäften bilden sich lange Schlangen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Auch Wolfgang Fischer, Geschäftsführer des Münchner Gewerbevereins Citypartner, sieht noch deutlich Luft nach oben: "Von Normalbetrieb im Einzelhandel sind wir weit entfernt." Ein Indikator für den insgesamt verhaltenen Andrang in der Innenstadt ist der Marienplatz, wo das Glockenspiel um 11 Uhr die Aufmerksamkeit von gerade mal einer Handvoll Leute auf sich zieht. Normalerweise drängen sie hier die Touristen, die der Handel in diesen Tagen besonders dringend bräuchte.

"Wir haben euch vermisst", Willkommen zurück" - diese Grüße an die Kunden sind an beinahe jeder Eingangstür zu lesen, direkt neben den Hinweisschildern mit den Hygienevorschriften. Bei Apple, einen Steinwurf vom Marienplatz entfernt, nimmt es der Sicherheitsdienst besonders genau. Bei jedem, der hinein will, wird gemessen, ob er Fieber hat. Vergleichbares ist sonst nirgends zu sehen in der Innenstadt. Und dennoch stehen die Kunden eine Dreiviertelstunde lang an. Weshalb tut man sich das an diesem Montag an, der für die größeren Läden den Tag Null nach der Krise markiert?

Alexander Kühn aus Taufkirchen wartet mit seiner Tochter Romina geduldig vor dem Store, bis ihm das Thermometer an die Stirn gehalten wird. Er ist schon ziemlich genervt vom Mundschutz, den er für überflüssig hält. Aber er hat der 13-Jährigen nunmal ein neues iPad zum Geburtstag versprochen. Eigentlich wollte Kühn das Gerät online bestellen, das hat aber nicht geklappt. Damit es rechtzeitig noch etwas wird mit dem Geschenk, mussten die beiden in die Stadt. Der Vater hatte die Wahl zwischen Corona-Shopping und einem enttäuschen Teenager. Da nahm er lieber das Einkaufen mit Fiebermessen und Maske in Kauf.

Der Schutz über Mund und Nase ist obligatorisch, kaum jemand hält sich nicht daran. Aufpasser stehen an jeder Ecke in den Kaufhäusern. Separate Ein- und Ausgänge leiten die Kunden bei Karstadt, Kaufhof, Hirmer und den anderen Platzhirschen recht flüssig durch die Häuser, Desinfektionsmittelspender stehen überall bereit. Wolfgang Fischer von City-Partner rät dem Handel auch dringend dazu, die Vorschriften ernst zu nehmen. Die Bezirksinspektoren würden mit Argusaugen darüber wachen. Wird in Geschäften der Mindestabstand nicht eingehalten oder die Maskenpflicht verletzt, drohen drakonische Strafen. Trotz aller Einschränkungen füllt sich die Fußgängerzone im Laufe des Tages allmählich, richtig voll wird es aber nicht. Manche Shopper genießen das.

Lisa Hotz, ihre Freundin Billy Keller und deren achtjähriger Sohn Collin aus Hessen wollten "einfach nur mal raus". Fünf Wochen hatten sie im Odenwald dem Virus getrotzt, jetzt war es für sie an der Zeit, einen Ausflug zu unternehmen, nach München zum Shoppen. Billy Keller fällt auf, dass mehr Leute auf der Straße freundlich lächelten. Wahrscheinlich seien sie froh, dass sie wieder bummeln könnten.

Marcel Keller und seine Tochter Emie nutzen die Öffnung der großen Kaufhäuser zum Shoppen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Wie Marcel Keller, weder verwandt noch verschwägert übrigens -, auch er ist auf der Suche nach Normalität. Mit seiner Tochter Emie besorgt er für die Mama Ersatz für ein verloren gegangenes Schlüsselmäppchen bei Oberpollinger. Die Fünfjährige trägt stolz das in ein Versace-Täschchen gepackte Geschenk davon. Es soll weiter gehen zu Lodenfrey in der Hoffnung, dass dort die bei Kindern beliebte Holzrutsche geöffnet ist und der Papa einen Kaffee trinken kann. So unbeschwert durch die Krise kommt nicht jeder. "Wir machen uns nichts draus", sagt Marcel Keller.

Sieben Wochen Durststrecke hat der Einzelhandel hinter sich, "und sie wird noch länger dauern", sagt Bernd Ohlmann vom Handelsverband. Nach der ersten Öffnung von Geschäften vor zwei Wochen und jetzt der Rückkehr der Kaufhäuser auf den Markt sieht er zumindest ein "klares Signal an die Kunden", dass es weitergehe. Wenn dann auch die Gastronomie wieder aufsperren könne und die Stadt belebe, sei ein weiterer Schritt getan. Ohlmann warnt aber vor Euphorie. Die befürchtete große Pleitewelle im Handel sei bislang zwar ausgeblieben, doch irgendwann müssten gestundete Mieten oder Kredite zurückgezahlt werden. "Das tatsächliche Ausmaß der Krise wird sich erst noch zeigen", befürchtet er, auch im Hinblick auf eine steigende Zahl von Arbeitslosen. Wichtig sei, weiter vorsichtig zu agieren. "Kommt das Virus zurück und bringt uns einen zweiten Shutdown, wäre dies eine Katastrophe."

© SZ vom 12.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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