"Münchner Schiene" des Literaturfests:München kann auch Freestyle

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Kreatives Wagnis: Poetry-Slam-Meisterin Meike Harms will bei ihrem Literaturfest-Auftritt auf Stimmen aus der Vergangenheit antworten. (Foto: Ursula Baumgart)

Nur Prosa und Lyrik in elitärem Ambiente? Wie kreativ junge Künstler mit Sprache umgehen, soll eine neue Sparte des Literaturfests zeigen: an aufregenden Orten, wo sich die Szenen mischen.

Von Bernhard Blöchl

Literatur, anders gedacht: Die Schriftstellerin liest einen Text, dessen Stimmung die Musikerin elektro-akustisch untermalt, während die Comic-Autorin dazu zeichnet und der Tänzer sich bewegt. Die Kunstformen überlagern sich, Impulse wie beim Kettenbrief. Der Freestyle-Rapper bringt sich in Stellung, Stichworte aus dem Publikum werden zu gereimten Zeilen.

"Abgefahren" heißt dieser Improvisationsabend, der die Grenzen dessen sprengt, was man normalerweise unter einer Lesung versteht. Der Abend im Zirka Space im Kreativquartier (1.12.) ist Teil des Literaturfest-Programms. Seit Mitte November berieselt das Münchner Herbstereignis die Stadt mit feinen Worten jeder Couleur, noch bis 4. Dezember. Das, was sich gegen Ende in die Agenda schiebt, schert aus. In jeder Hinsicht. Denn die "Münchner Schiene", wie die experimentelle Woche von 28. November an genannt wird, führt raus aus dem Literaturhaus, raus aus der E- und Mainstream-Literatur, rein in die Subkultur, rein in das Dazwischen. Dorthin, wo frische Wörter wabern, dorthin, wo das Scheitern lauert. Und vielleicht ist es ja an der Zeit, einmal die ganz großen Fragen auf das knarzende Lesepult zu bringen: Was ist eigentlich Literatur, wo beginnt und endet sie? Wo findet sie in der Verlagsstadt München auch abseits der etablierten Orte statt, und wer kann da wie mitmischen?

"Es geht hier nicht um Clickbaiting nach dem Motto: Zehn Münchner AutorInnen, die du kennen musst": Der Münchner Autor und Musiker Benedikt Feiten hat die erste "Münchner Schiene" des Literaturfests kuratiert. (Foto: Maria Svidryk)

"Es ist irre, was hier los ist!", sagt Benedikt Feiten über das Literaturangebot seiner Heimatstadt. Feiten, Jahrgang 1982, ist mehrfach publizierter Schriftsteller ( "Leiden Centraal"), Musiker und Journalist. Als Kurator der ersten Münchner Sub-Edition des Literaturfests hat er sich mit größtenteils jungen Prosa- und Lyrik-Autorinnen und -Autoren beschäftigt, mit Poetry-Slam-Bühnen, Rappern, Schreibwerkstätten und Off-Spaces. "Es gibt viele einzelne Szenen", sagt er und schiebt hinterher: "Man kann auf keinen Fall alles repräsentieren." Sein Ansatz für dieses Festival im Festival: "Es geht hier nicht um Clickbaiting nach dem Motto: Zehn Münchner AutorInnen, die du kennen musst. Sondern darum: Wo stellt man sich eine interessante Dynamik vor?" Quer durch die Genres soll es gehen, Szenen sollen sich mischen. "Begegnungen zu schaffen, war mir am allerwichtigsten." Also wird gelesen und gesungen, gegessen und getrunken, gestritten und getanzt, improvisiert und debütiert. "Open Mic"-Abende für unbekannte Talente gibt es auch, bei freiem Eintritt (30.11. und 1.12.).

"Ich würde mir wünschen, dass es weitergeht"

Feitens Literaturbegriff ist weit gefasst. "Ob man jetzt Freestyle-Rap als Literatur bezeichnet, ist zwar interessant, aber für mich nicht der springende Punkt", erklärt er. "Jemand, der Rap macht, wird sich wie andere Schreibende auch mit Stil, Rhythmik, Bildkraft und Lautmalerei auseinandersetzen." Das verbindet. Der Impro-Donnerstag ("Abgefahren") steht deshalb pars pro toto für das Konzept von Feiten, der unter anderem 2005 mit dem Literaturstipendium der Stadt München ausgezeichnet wurde, 2019 mit einem Bayerischen Kunstförderpreis, und eng mit der Bayerischen Akademie des Schreibens verbunden ist. Er selbst wird moderieren, wenn Jovana Reisinger liest, Roger Rekless rappt, Lisa Frühbeis zeichnet, Alfonso Fernández Sánchez tanzt und Musikerin Inga in ihre Soundwelten entführt. Wenn sie also "Kunst auf Zuruf" im Zirka Space machen und das Risiko des Scheiterns auf sich nehmen.

Überhaupt die Orte: Auch die Favorit Bar ist involviert, das Bellevue di Monaco, die Rote Sonne und der Saal X im HP8 - allesamt eher ungewöhnliche Literaturfest-Bühnen. Dass die Orte zum jeweiligen Abend passen, war Feiten besonders wichtig. Weil es eben immer auch darum geht, wo Literatur stattfindet. So konnte für ihn eine Veranstaltung über Gemeinschaft nur im Bellevue di Monaco beheimatet sein (Essen, Trinken, Texte und Musik, unter anderen mit Dana von Suffrin und Maxi Pongratz), ein Live-Hörspiel nur im Club Rote Sonne. Gewiss, das Literaturfest war nie ausschließlich auf das Literaturhaus begrenzt. Aber eine Öffnung wie diese ist bemerkenswert. Eine Tendenz der Dezentralisierung, die seit einiger Zeit auch beim Filmfest München zu erkennen ist.

Die Münchner Reihe "Meine drei lyrischen Ichs" um Tristan Marquardt (2. v. li.) präsentiert sich beim Szene-Treff am Dienstag im Literaturhaus - gemeinsam mit anderen Veranstaltern, Autorinnen und Werkstätten. (Foto: Mario Steigerwald)
Die vielseitige Künstlerin Jovana Reisinger bereichert den Crossover-Abend im Zirka Space. (Foto: Thomas Gothier)
Benno Heisel und Henriette Fridoline Schmidt bringen ein Live-Hörspiel in die Rote Sonne. (Foto: Martin Kießling)

Ein weiterer Schlüsseltag ist der Dienstag ("ein organisatorischer Kraftakt"). Und weil eben auch das Literaturhaus eingebunden werden soll, trifft sich die Szene in ihrer breiten Vielfalt hier. Lesereihen und Schreibwerkstätten stellen sich am 29. November vor, es wird diskutiert (unter anderen mit Tristan Marquardt, Bumillo, Dagmar Leupold, Markus Ostermair) und natürlich gelesen. Schreibübungen soll es auch geben. Der Abend hat das Potenzial, Fragen zu beantworten, die sich viele stellen: Wie werde ich Autorin, wo gibt es in München Auftrittsmöglichkeiten? Feiten staunt, wie groß die Resonanz war. Wörtlich sagt er: "Geil, wie viel Bock die alle hatten."

Genähert hat er sich beim Kuratieren über Themen, nicht über Autoren. "Es gibt halt so wahnsinnig viele starke Leute in München", sagt Feiten. Obwohl auch namhafte dabei sind (Tukan-Preisträger Martin Kordic und die Buchpreis-Nominierte Slata Roschal sprechen zum Auftakt über das Nichtdazugehören), stehen eher die Themen im Vordergrund. Eine weitere spannende Idee war, junge Münchner Schreibende auf "Stimmen aus dem Off", also auf literarische Texte aus der Vergangenheit reagieren zu lassen. Eine Interaktion zwischen Gestern und Heute. Auf das Experiment lassen sich unter anderen Meike Harms und Florian Weber ein, die dafür exklusive Texte geschrieben haben (2.12., HP8).

Aus der Vergangenheit ins Hier und Jetzt - aber auch in die Zukunft? Der Wunsch, dass es ein München-Programm beim Literaturfest geben soll, existiert schon lange. Feiten hofft, dass die von ihm gestaltete Schiene nur der Anfang sein wird. "Ich würde mir wünschen, dass es weitergeht", sagt er, "möglichst mit unterschiedlichen Formen und Kuratoren". Bescheiden und klug, sagt er auch: "Die Szene ist nicht darauf angewiesen, dass man sie öffnet". Dennoch geschieht es viel zu selten, dass Menschen, die kreativ mit Gedanken und Wörtern spielen, sich zusammentun und begegnen. Die München-Schiene des Literaturfests hat großes Potenzial. Daran glaubt auch Feiten: "Auf die Frage, gibt's das her?, lautet die einfache Antwort: eine Million Prozent!"

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