Literatur:Räder schlagen, Saltos wagen

Literatur: Weber schont sich nicht in seinem Roman, auch den Leser nicht: Es geht um Krebs und Verlust in der Familie - er selbst hat sehr früh seine Mutter verloren.

Weber schont sich nicht in seinem Roman, auch den Leser nicht: Es geht um Krebs und Verlust in der Familie - er selbst hat sehr früh seine Mutter verloren.

(Foto: Mirco Taliercio)

Der Sportfreunde-Stiller-Drummer Florian Weber bringt seinen dritten Roman "Die wundersame Ästhetik der Schonhaltung beim Ertrinken" heraus.

Von Michael Zirnstein, München

In einem Zirkus wäre Florian Weber ein Clown. Melancholischer Pierrot, provozierender Eulenspiegel, cheffiger Weißclown - das steckt alles in ihm. Und als Schlagzeuger der Sportfreunde Stiller und Brüllsänger der Bolzplatz Heroes oder als der Rapper MS Flinte ist er vor allem Musikclown, anmoderierender Ringmaster und auf der Bühne gerne mal der dumme August. Der sportliche Kerl mit dem Nasenring wäre die Idealbesetzung für "Stars in der Manege", falls es das noch gäbe. Jedenfalls mag er den Zirkus, lässt sich jedes Jahr von der Tante seiner Frau einladen in den Circus Krone oder irgendwo in der Provinz. Gerade die Akrobatik fasziniert ihn, er hat selbst zehn Jahre lang geturnt in seiner Kindheit, als Jugendlicher kreiselte er als Breakdancer herum.

Die Hauptfigur ist ein junger Münchner, der in den Appalachen auf den Clown Birdy trifft

Diese Passion und Kenntnis offenbart der Tausendsassa (Musiker, bildender Künstler, Radiomoderator, Autor, Diplomsportwissenschaftler) in seinem dritten Roman "Die wundersame Ästhetik der Schonhaltung beim Ertrinken" (Heyne Hardcore). Da lässt er die Hauptfigur, den jungen Deutschen, genauer: Münchner, Heinrich Pohl in einem gelbblau-gestreiften Minizelt irgendwo in den Appalachen einen Clown namens Birdy bestaunen, wie der Flickflack an Flickflack reiht, sich mit einem Reutherbrett auf den Rücken eines Lamas katapultiert, "nur mittels Armkraft" wie ein Olympiaturner an einem Seil in die Höhe klettert und dort in einem "angsteinflößenden Manöver" am Trapez herumwirbelt. "Ich vergesse alle schweren Gedanken und eckigen Überlegungen", sagt der Ich-Erzähler da: "Ich bin beseelt und verliebt."

Der Zirkus "mit seiner bunten, explodierenden Farb- und Bewegungswelt", so der 48-Jährige, sei eine dankbare Motivquelle für Geschichten. Man denkt da, auch in seinem Roman, an die tragische Gelsomina in "La Strada" von Fellini, und an "Zirkuskind" von Irving. "Schönes Buch", sagt Weber. Eigentlich wollte er Heinrich Pohl einen Zirkus erben lassen, sagt er, aber an dieser Vorstellung sei er gescheitert. Das erzählt durchaus etwas über die Weise, wie er schreibt. Er fühle sich ja auch bei seinem bereits dritten Buch nicht als professioneller Literat, sondern eher als Geschichtenerzähler, und das Draufloschreiben, das funktioniere ganz gut (wenn sie auch seinem Lektor Markus Nägele, selbst ein Rockmusiker, einiges abverlangte). Also in der Idee des Manege-Erbens blieb er stecken, anders als Alexander Kluge, der 1969 mit seiner Erzählung von der Reformzirkusdirektorin Leni Peikert einen in Venedig prämierten Filmerfolg landete. Aber: "Ein Clown musste sein, und dann habe ich mir gesagt: Dann hauen wir den gleich mal ins Wasser. Und ich muss schauen, wie das alles zusammenpasst."

Literatur: Der 48-Jährige Forian Weber entspinnt eindrucksvoll anschauliche Geschichten, die in ihren verschiedenen Tonfällen alle ineinander geschachtelt sind.

Der 48-Jährige Forian Weber entspinnt eindrucksvoll anschauliche Geschichten, die in ihren verschiedenen Tonfällen alle ineinander geschachtelt sind.

(Foto: Mirco Taliercio)

Weber schwimmt beim Schreiben anfangs. Wie Heinrich, der aus einer Ohnmacht in einem lauwarmen Meer erwacht. In Sicht: kein Land. Nur ein schwankender Horizont, eine Styroporkiste, an die er sich klammert, ein Lama, das ihn strampelnd umpaddelt, ein Klavier auf einem Schlauchboot, Büchsen mit mexikanischem Bier und bald ein Koffer mit einer abgetrennten Hand und ein bewusstloser Clown in einer Schwimmweste. Eine Situation wie ein Escape-Room-Spiel, nur im Wasser. Die Koordinaten: 27.847.156 Grad Breite, -79.610.289 Länge, also im Atlantik nördlich der Bahamas, westlich von Vero Beach. Aber das weiß Heinrich nicht. Er weiß gar nichts. Das ist eine geniale Ausgangslage für Weber, der seine Hauptfigur nach und nach mit Erinnerungshappen füttert.

Der Autor hat viel unnützes, doch interessantes Wissen angehäuft, das demonstriert er gern.

Als der Dümpelnde etwa eine Aztekenmöwe über sich sieht, fliegen seine Gedanken zurück in die Kindheit, wo er diesen in Amerika lebenden Wasservogel in einem Naturkundebuch seinem Lieblingsonkel Wendelin mitten in München zeigt. "Schlauberger", sagt der. Das könnte man bisweilen auch Weber zurufen. Er hat viel unnützes, doch interessantes Wissen angehäuft, das demonstriert er gern. Zum Glück ist er aber auch auf einer Linie mit seiner abenteuerlustigen Figur Wendelin, der seinem Zögling sagt: "Du weißt aber bei weitem nicht alles. Du musst selbst experimentieren. Das Leben ist ein verfluchtes Experiment. Überleg nicht lang, mach einfach." Das ist ganz er: "Mein Wesen ist, alles auszuprobieren, nicht nur im Makrokosmos, also schreiben, musizieren, malen, sondern auch im Schreiben drin überall hinzuspüren. Die Frage ist, ist es dann konsistent, also verliere ich mich nicht, weil ich mal so, mal so schreibe."

Auf jeden Fall entspinnen sich so eindrucksvoll anschauliche Geschichten, die in ihren verschiedenen Tonfällen alle ineinander geschachtelt sind: von Wendelins Zeit als Austauschstudent in Schweden, wo er die Liebe seines Lebens beim Eislauf mit einem Einheimischen gewinnt. Von Heinrichs Kindheit, den Demütigungen beim Klippenspringen am Dollinger Weiher, und dem Großwerden im Antiquariat des Onkels am Viktualienmarkt inmitten von wundersamem Nippes und verkaufsfördernden Halbwahrheiten, was sehr an Donna Tartts US-Epos "Der Distelfink" erinnert, das Weber aber ausnahmsweise gar nicht kennt. Und der alles aufklärende Trip der beiden durch die Südstaaten der USA. Die hat auch Weber mit einem dort lebenden Studienfreund bereist. Das schamanische Friedenspfeifen-Ritual im Arches Nationalpark, der schlaue dunkelhäutige Verkäuferjunge in der Tank- und Gemüsestelle El Sabino Grocery & Fuel, der sagt, in jedem Klischee stecke auch ein Korn Wahrheit - das liest sich wie erlebt; und einiges wie von Jack Kerouacs "On The Road" inspiriert fein inszeniert. Etwa jener Südstaaten-Sketch, als Heinrich von einem Haufen Zipfelmützen-Kukluxklanern umringt ist, die ihn erst bedrohen, dann am liebsten als Führer dabehielten in ihrem Nest: "Der Deutsche müsste sich doch mit Hitler und so auskennen."

Eine Satire auch gegen hiesige Reichsbürger? Solch Haltung zeigt Weber oft. In einem Musikvideo als MS Flinte hat er sich mal vom bärtigen Kerl in eine Frau verwandelt - auch im Buch gibt es queere Passagen. Weber schont sich nicht bei der "Schonhaltung", auch den Leser nicht, es geht um Krebs und Verlust in der Familie (er hat sehr früh seine Mutter verloren). Und er nimmt sich, ganz Schlagzeuger, dafür die Zeit und den Rhythmus, die er gerade braucht: Mal sprudelnd und weit, mal fast quälend monoton und eng. Manchmal erzählt er episch, wie Thomas Glavinic in "Das größte Wunder", das im Aufbau und Ende ähnelt. Manchmal purzelt alles irre konstruiert durcheinander wie in einem Heinrich-Steinfest-Roman, dabei stellt er fintenreich wie ein Trickster (noch so eine Narren-Gestalt) die kosmische Lese-Ordnung auf den Kopf.

Literatur: Ähnlich wie bei seinem Stamm-Trio "Sportfreunde Stiller" nimmt sich der Schlagzeuger Weber auch beim Erzählen die Zeit und den Rhythmus, die er gerade braucht.

Ähnlich wie bei seinem Stamm-Trio "Sportfreunde Stiller" nimmt sich der Schlagzeuger Weber auch beim Erzählen die Zeit und den Rhythmus, die er gerade braucht.

(Foto: Marcel Chylla)

Die Dynamik passt. Bei Weber immer auch auf der Bühne. Bevor er mit den Sportfreunden Stiller nun mit neuer Single als Vorboten zum im August erscheinenden Album groß im Vorprogramm von Herbert Grönemeyer (8. Juni, Olympiahalle) und open air beim Dachauer Musiksommer (20. August) auftritt, zieht er allein zur Vorlesereise los. Da fühlt sich der Getriebene durchaus ausgesetzter als in seinem Stamm-Trio, beurteilter in seinen Gedanken, blanker.

Genau das ist das Wesen des Zirkus: das Risiko, nicht nur das körperliche. Eine Analogie auf das Leben, oder, wie Clown Birdy sagt: "Machen und Vergessen. Machen und Erinnern. Räder schlagen. Saltos wagen. Mit Äpfeln jonglieren. In die Tasten hauen. Auf Händen laufen. Durch Reifen springen. Risiken eingehen. Auf die Haube fallen. Finten legen. Verschwinden lassen. Erscheinen lassen. Handstand auf Pferderücken. Trommeltusch und Klaviermelodien." Als wär's der Fahrplan für Webers Kopfgeburten, die der Autor Jan Weiler zurecht einen "Flo-Zirkus" nannte. Und darin ruft wohl immer ein Clown: "Im Zirkus ist die Welt so bunt, wie sie immer sein sollte, aber es leider nur selten ist. Deswegen bin ich immer Zirkus. Ich bin immer Clown." Und deswegen ist man auch als Leser so traurig, wenn Quasten, die Locken und die roten Lackschuhe abtauchen unter dem Satz: "Am Meeresgrund ist der Himmel immer nass."

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