Die Uhr zeigt eine Minute vor vier, als die Elizabethan erneut auf das Startfeld am Flughafen München-Riem rollt. Das Flugzeug soll die Fußballmannschaft von Manchester United zurück nach England bringen, die am Abend zuvor mit einem 3:3 in Belgrad den Einzug ins Halbfinale des Europapokals der Landesmeister geschafft hat. Zwei Startversuche hat die Maschine bereits abbrechen müssen, weil sie nicht auf die nötige Geschwindigkeit beschleunigen konnte. Doch für dieses Mal ist Kapitän James Thain optimistischer: Der dichte Schneefall hat nachgelassen und die Sicht ist besser geworden. Auf der Rollbahn liegt ein wenig Schneematsch.
16.02 Uhr: Der Tower erteilt die Starterlaubnis für die Maschine. Die Piloten beschleunigen, doch plötzlich treten die gleichen Probleme auf wie bei den zwei Versuchen zuvor. Das Flugzeug beginnt leicht zu schlingern, dann verliert es aus unerfindlichen Gründen an Geschwindigkeit. "Christ, we won't make it!", schreit Co-Pilot Kenneth Rayment plötzlich. Thain blickt in dem Moment das erste Mal während des dritten Startversuchs aus dem Fenster und erschrickt: Die Piste ist fast zu Ende, das Flugzeug ist zu langsam, um abzuheben - und zu schnell, um abzubremsen.
1958: Flugzeugunglück:Der Flugingenieur hatte O.K. gesagt
Am 6. Februar 1958 geht ein Flugzeug in München Riem in Flammen auf. 23 Menschen sterben, darunter acht Spieler von Manchester United. In einem SZ-Artikel von damals schildern der Kapitän und die Besatzung der britischen Unglücksmaschine die letzten Sekunden vor der Katastrophe.
Er habe das Haus und den Baum am Ende der Piste auf sich zurasen sehen, wird er später im Untersuchungsbericht des Luftfahrt-Bundesamts Braunschweig sagen: "Ich entsinne mich, dass ich dachte, wir könnten unmöglich dazwischen durchkommen. Ich zog den Kopf ein, und dann kam der Zusammenstoß." Das zweimotorige Flugzeug kracht in das 300 Meter von der Piste entfernte Haus, wird zerrissen, der Rumpf schleudert 150 Meter weiter und setzt einen Schuppen in Brand.
23 Tote, 21 Verletzte. Das ist die Bilanz des Flugzeugunglücks von Riem, das sich am 6. Februar zum 65. Mal jährt. Die schlichten Zahlen können aber nur einen Teil der Tragik abbilden, die der Absturz für die Überlebenden, die Hinterbliebenen und den englischen Fußball bedeutet hat. Er zog jahrelange juristische Streitereien nach sich, rief Verstimmungen zwischen England und Deutschland hervor, traumatisierte Überlebende wie den beim Absturz lebensgefährlich verletzten Trainer Matt Busby, der sich für den Tod acht seiner Spieler verantwortlich fühlte. "Er hat München nie vergessen. Irgendwie fühlte er sich verantwortlich. Als wären es seine Kinder, die dort gestorben sind", sagte der Fußballer Bobby Charlton, der das Unglück überlebte und die englische Nationalmannschaft acht Jahre später zum Weltmeistertitel führte.
Der Absturz zerstörte auch unter den Überlebenden Existenzen: Johnny Berry und Jackie Blanchflower waren so schwer verletzt, dass sie nie wieder Fußball spielen. Flugkapitän James Thain musste seinen Beruf ebenfalls aufgeben. Er konnte das Cockpit nach dem Unfall noch aus eigener Kraft verlassen, anders als sein Co-Pilot Rayment, der mehr als einen Monat später an den schweren Verletzungen im Krankenhaus starb.
Befand sich die Eisschicht schon vor dem Unfall auf den Tragflächen?
Doch Thains persönliche Tragödie begann sechs Stunden nach dem Absturz, als die Untersuchungskommission des Luftfahrt-Bundesamts Braunschweig am Unglücksort eintraf. Die Experten wischten den Schnee von den Tragflächen und entdeckten eine fünf Millimeter dicke Eisschicht. Hatte sich das Eis erst in den Stunden nach dem Absturz gebildet? Oder lag hierin die Ursache für den Unfall? Diese Frage ist bis heute nicht endgültig beantwortet. Im Untersuchungsbericht des Luftfahrtamtes hieß es später, dass sich "rein rechnerisch" der Eisbelag während der Zwischenlandung in München gebildet haben könnte. Zeugen berichteten, dass sich vor dem Wegrollen Schnee auf den Tragflächen befunden habe. Aber befand sich eine Eisschicht darunter?
James Thain, der am Tag nach dem Unglück 37 Jahre alt wurde, geriet ins Visier der Ermittler. Denn dafür, dass mit den Tragflächen alles in Ordnung ist, hatte der Pilot Sorge zu tragen. Das Luftfahrtamt untersuchte auch andere Faktoren. War die Startpiste im Schneetreiben unzureichend präpariert? Hatten die Laufräder im Schneematsch blockiert? Gab es Probleme mit der Technik am Flugzeug? Am Ende kam die Kommission aber zu einem eindeutigen Ereignis: "Die Eisschicht hat die aerodynamischen Eigenschaften des Flugzeuges wesentlich beeinträchtigt (...) und die erforderliche Abhebegeschwindigkeit heraufgesetzt. (...) Hierin lag die entscheidende Unfallursache." Mit anderen Worten: James Thain war für die Katastrophe verantwortlich.
Zumindest aus Sicht der Deutschen. Thain widersprach dieser Darstellung. Für ihn stand längst mehr auf dem Spiel als nur sein Ruf: Ihm drohte die Aberkennung seiner Fluglizenz und damit das berufliche Aus. Er wollte die Wiederaufnahme der Ermittlungen erzwingen, doch eine erneute Untersuchung bestätigte 1964 das Ergebnis von 1958. Für seinen Arbeitgeber British European Airways war der Pilot nicht länger haltbar. Thain wurde entlassen und musste sich fortan als Betreiber einer Putenfarm über Wasser halten.
Neue Erkenntnisse ignorierte das Luftfahrtamt
Doch er kämpfte weiter verbissen für seine Rehabilitierung. Mit Erfolg. Elf Jahre nach dem Unfall kam eine englische Kommission 1969 mit neuen Zeugenaussagen zu einem gänzlich anderen Schluss: "Die Unfallursache war Matsch auf der Rollbahn. Nach unserer Ansicht trifft Kapitän Thain keine Schuld." Bei Fotos, die als Beweis für Schnee auf den Tragflächen herangezogen worden waren, habe sich herausgestellt, dass der Schnee in Wirklichkeit eine Lichtreflexion war.
Das Unglück wurde endgültig zum englisch-deutschen Konflikt: Die Britische Pilotenvereinigung warf Braunschweig vor, Zeugenaussagen unterdrückt zu haben. Tatsächlich wurden Aussagen, die gegen die Vereisungstheorie sprachen, in dem Bericht nicht erwähnt. Damit habe man von eigenen Versäumnissen ablenken wollen, so die Pilotenvereinigung. Denn wäre eine schlecht präparierte Piste die Unfallursache gewesen, wäre der Flughafen verantwortlich für die Katastrophe. "Reine Polemik", wetterte Luftfahrtamt-Direktor Friedrich Möhlmann 1969 in einem Spiegel-Interview. Die englischen Untersuchungsergebnisse stellte er infrage: "Wie kann man das nach elf Jahren feststellen?"
In Old Trafford, dem Stadion von Manchester United, erinnert eine Uhr mit der Aufschrift "Feb 6th 1958 Munich" bis heute an das schreckliche Unglück. Die "Busby Babes", wie die Mannschaft von Trainer Matt Busby mit einem Altersdurchschnitt von nur 23 Jahren genannt wurde, galten als großes Versprechen, als Hoffnung des englischen Fußballs. Hätten sie diese Träume erfüllt? Es macht den Mythos von Manchester United aus, dass diese Frage nie beantwortet werden wird.
Nach dem Unglück haben nur sieben der mitgereisten 17 Fußballer weiter professionell Fußball gespielt. Das Unglück veränderte die Identität des Vereins. "Manchester United wandelte sich von einem Fußballclub zu einer Institution", stellte Harry Gregg, der "Held von München", später fest. Er rettete vier Menschen aus dem Wrack, ehe es explodierte.
Der Flugzeugabsturz hat eine Freundschaft zwischen den Städten und auch zwischen den in internationalen Wettbewerben rivalisierenden Fußballclubs Bayern München und ManU entstehen lassen. Seit im Jahr 2004 ein Gedenkstein am Manchesterplatz zu Ehren der Opfer aufgestellt wurde, kümmert sich der FC Bayern um den Blumenschmuck. Auch soll eine Vitrine die Erinnerungen an das Flugzeugunglück wachhalten, sie soll an diesem Montag, 65 Jahre nach dem Absturz, in Anwesenheit von Oberbürgermeister Dieter Reiter sowie Vertretern von Manchester United und dem FC Bayern München offiziell enthüllt werden.
Im Andenken herrscht Einigkeit, nicht jedoch in der Aufarbeitung. Deutschland hält bis heute am Urteil von 1958 und damit an Thains Schuld fest; in England gilt der Pilot aufgrund der Erkenntnisse von 1969 als unschuldig. Ein Widerspruch, den Luftfahrtamt-Direktor Möhlmann hinnahm mit den Worten: "Es handelt sich um eine unterschiedliche Bewertung bekannter Tatsachen."
Für James Thain war es mehr als das. Er starb 1975 an einem Herzinfarkt. Er wurde 54 Jahre alt.
Dieser Text wurde am 5. Februar 2018 erstmals veröffentlicht und nun aktualisiert.