SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 106:Schrei so laut du kannst?

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Andere Menschen würden vermutlich irgendwann einfach zurückschreien, wenn sie permanent angeplärrt werden. Doch Pola Gülberg und ihre Kolleginnen müssen andere Wege finden. (Foto: Veam/imago images/Westend61)

Manchmal gibt es Patienten, die es Pola Gülberg und ihren Kolleginnen schwierig machen, sie optimal zu versorgen - zum Beispiel, wenn sie die ganze Zeit schreien. Was in solchen Situationen helfen kann.

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Vor einiger Zeit haben wir auf unserer Intensivstation eine Patientin versorgt, die mich bis ins Mark erschüttert hat. Nicht, weil ihre Krankheitsgeschichte in einer Form qualvoll gewesen wäre, wie ich es noch nie erlebt hatte. Sondern weil sie immer wieder schrie - und zwar in einer Frequenz, die uns allen wirklich ins Mark ging.

Die Frau war Ende 60 und kam mit einem akuten Nierenversagen zu uns. Sie war kaum ansprechbar, das ist nicht ungewöhnlich bei einem solchen Fall. Wenn es ganz schlimm ist, dann können Betroffene auch bewusstlos werden.

Wir schlossen sie an ein Dialysegerät an, das die Giftstoffe aus ihrem Blut herausfilterte. Je mehr dadurch ihre Nierenwerte wieder ins Lot rückten, desto wacher wurde die Patientin.

Mit der Zeit wurde die Frau aber auch immer fordernder und vor allem: lauter. Ich erinnere mich an ein Mal, als ich bei ihr war und sie auf einmal anfing zu schreien: "Zuckerkrank! Zuckerkrank! Zuckerkrank!" Ihre Stimme war schrill und hoch, es tat mir richtig weh in den Ohren. Mehrere Male haben meine Kollegen und ich ihr ganz einfühlsam erklärt, dass wir um ihre Zuckerkrankheit wussten und sie dementsprechend Insulin bekam, ehe sie sich beruhigte.

Als sie ein andermal schrie, habe ich sie gefragt, ob sie etwas brauche, da brüllte sie mir entgegen: "Trinken!" Ich bin ruhig geblieben und habe mein Bestes gegeben, damit auch sie zur Ruhe kam. Und tatsächlich: Sie hörte das Schreien auf. Doch nur ein paar Stunden später waren ihre Schreie wieder über die ganze Station hinweg zu hören. Einen anderen Patienten zu ihr ins Zimmer legen konnten wir nicht - das war nicht zumutbar.

Irgendwann begann sie, in ihrer Muttersprache zu schreien - wir verstanden sie nicht mehr. Ein paar Mal habe ich es mit einem Übersetzter probiert, aber das funktionierte nur bedingt. Nett klang es jedenfalls nicht, was sie uns entgegenschrie.

Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Schließlich bat eine Kollegin die Angehörigen zu einem Gespräch. Da stellte sich heraus, dass die Patientin behauptete, wir würden sie schlecht behandeln - das stimmte auf keinen Fall. Doch wenn wir die ganze Zeit angeschrien werden und das meiste davon nicht einmal verstehen, dann ist es kaum möglich, ihr zu helfen.

Nach dem Angehörigengespräch konnten wir die Frau endlich ganz normal versorgen - ohne Schreie. Dass sie überhaupt so laut und aufbrausend war, lag vermutlich an ihrer Erkrankung: Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen nach einem akuten Nierenversagen eine Weile brauchen, ehe sie wieder sie selbst sind.

Mir hat dieser Fall gezeigt, wie wichtig für uns die Kommunikation mit Angehörigen ist: Hätten wir die Situation ihnen gegenüber nicht offen angesprochen und hätten sie als enge Bezugspersonen nicht mit ihr eingehend geredet - gut möglich, dass sie einfach weitergeschrien hätte.

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 39-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

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