SZ-Pflegekolumne: Auf Station, Folge 139:Wenn der negative Gedanke immer stärker ist

Lesezeit: 2 min

Borderline zählt zu den Persönlichkeitsstörungen, Betroffene haben eine verzerrte Selbstwahrnehmung. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Eine Patientin von Pola Gülberg kommt nach einem Suizidversuch in die Ebersberger Kreisklinik: Ihre Borderlinestörung hatte sie dazu getrieben, obwohl sie gar keine ernsten Absichten verfolgte. Was ging in der Frau vor?

Protokoll: Johanna Feckl, Ebersberg

Meine Patientin hatte gerade einen Suizidversuch hinter sich. Schnell wurde aber klar, dass sie nicht ernsthaft vorhatte, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Denn sie selbst war es gewesen, die eine Freundin verständigt hatte und sich dann von ihr in die Notaufnahme bringen ließ. Der Versuch war ein Hilferuf - und eine Folge ihrer psychischen Erkrankung: Die Frau war an Borderline erkrankt.

Die Meisten denken da vermutlich sofort an Menschen, die sich die Unterarme ritzen - sich selbst Schmerzen zuzufügen ist ein Symptom der Krankheit. Damit versuchen Betroffene, einen anderen Schmerz zu verdrängen, oft ist das ein seelischer. So habe ich das schon häufig bei Frauen erlebt, die vergewaltigt worden sind. Jedoch nicht alle, die sich ritzen, sind automatisch Borderliner. Doch die meisten Borderliner ritzen sich.

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Als ich mit meiner Patientin ins Gespräch kam, hat sie mir erzählt, wie es zu dem Suizidversuch gekommen war: Schon seit Längerem war sie in Behandlung wegen ihrer Persönlichkeitsstörung, dadurch ging es ihr eigentlich gerade ganz gut. Sie hatte eine Arbeit, und zwar genau die, die sie haben wollte. Doch leider reicht bei psychischen Erkrankungen wie Borderline oft schon eine Kleinigkeit für einen Rückschlag. So war es auch bei meiner Patientin.

Sie hatte ein schlechtes Erlebnis in der Arbeit. Das hat sie so sehr belastet, dass sie abends zu Hause saß und überlegte: "Ich könnte jetzt das Krisentelefon anrufen. Ich könnte aber auch an meinen Apothekerschrank gehen und schauen, was ich dort noch für Reserven habe." So erzählte sie es mir. Hin- und hergerissen war sie, doch schließlich besiegte der Teufel auf der einen Schulter den Engel auf der anderen. Und so folgte sie dem falschen Entscheidungspfad. Sie erklärte mir: "Das Negative hat gewonnen, und erst danach konnte ich das Positive wieder einschalten." Das war der Punkt, an dem sie dachte: "Scheiße, was habe ich da jetzt gemacht", und ihre Freundin anrief.

Intensivfachpflegerin Pola Gülberg von der Ebersberger Kreisklinik. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Da war ich baff. Noch nie habe ich eine Borderline-Betroffene so reflektiert über ihre Persönlichkeitsstörung sprechen hören. Denn genau das ist bei Erkrankten der Fall: Das ganze Selbstbild, die Wahrnehmung der Persönlichkeit, das alles ist verzerrt. Das äußert sich dann häufig in einem impulsiven Verhalten, bei dem die negativen Gedanken die Oberhand gewinnen. Zunächst jedenfalls.

Meine Patientin blieb bis zum nächsten Tag auf unserer Überwachungsstation. Dann hat sie sich freiwillig in eine Psychiatrie einweisen lassen.

Hinweis der Redaktion: Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge, anonym und kostenlos unter (0800) 111 0 111 und (0800) 111 0 222, zudem ist über www.telefonseelsorge.de eine Online-Beratung möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen bietet die Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention unter www.suizidprophylaxe.de .

Pola Gülberg ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 39-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte sind unter sueddeutsche.de/thema/Auf Station zu finden.

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