ARD-Dokudrama:Wir dürfen nicht werden wie sie

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Anton Walter Freud wurde vom Flüchtling zum Nazijäger - seine Figur ist nun einer der Charaktere im Dokudrama "Nazijäger". (Foto: NDR)

Das ARD-Dokudrama "Nazijäger - Reise in die Finsternis" handelt vom Zwiespalt, das Recht durchsetzen zu müssen, wenn man doch Rache im Herzen trägt.

Von Joachim Käppner

Es sind beklemmende Szenen. Soldaten umstellen eine Scheune, zerren einen zerlumpten Mann heraus, der Offizier drückt ihm einen Revolver in den Mund. Sie reißen ihm die Kleider vom Leib, und der Offizier sieht äußerlich emotionslos zu, wie seine Soldaten den Festgenommen mit Axtstielen prügeln, erst dann gebietet er ihnen Einhalt: Der Mann soll leben, für seinen Prozess.

Dieser Mann ist nicht Franz Lang, wie er beteuert, sondern Rudolf Höß, der frühere Kommandant des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz, der mehr als zwei Millionen Menschen auf dem Gewissen hat und 1946 von einer britischen Spezialeinheit aufgespürt wurde. Die Szene ist wahrscheinlich authentisch. Und den Offizier hat es wirklich gegeben: Hanns Alexander.

Das ARD-Dokudrama "Nazijäger" handelt von jener kurzen Phase, in der die Siegermächte noch intensiv nach Naziverbrechern suchten. Im Mittelpunkt steht anfangs die War Crimes Investigation Unit, in der auch einige jüdische Deutsche arbeiten wie Hanns Alexander. Zu den stärksten Szenen gehören ihre Debatten darüber, wo die Grenzen der Vergeltung liegen. Hanns Alexander gehörte zu den Befreiern des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, das Grauen, das er dort sah, lässt ihn nicht mehr los. Er muss das Recht durchsetzen und trägt doch Rache im Herzen. Sein Kontrahent in der Einheit, Captain Anton Walter Freud, Sigmund Freuds 1938 nach London entkommener Enkel, setzt sich durch: Wir dürfen nicht werden wie die, sagt er.

Der bald aufkommende Kalte Krieg ließ den Fahndungsdrang in den Westsektoren erkalten, die Bundesrepublik begann erst Ende der Fünfzigerjahre langsam, Täter vor Gericht zu stellen. Umgekehrt verhielt es sich in Ostdeutschland: Das Interesse der anfangs rigorosen Strafjustiz ließ bald nach Gründung der DDR rapide nach, weil die NS-Verbrechen zum exklusiven Problem der Bundesrepublik erklärt wurden. Erst in der Gegenwart, wie derzeit beim Prozess gegen eine 100-jährige Sekretärin, geht die Justiz von dem Prinzip aus: Wer ohne Zwang in einer Einrichtung tätig war, die eigens für den Mord und Terror geschaffen wurde, kann nicht behaupten, mit diesen Morden nichts zu tun gehabt zu haben: Er oder sie war beteiligt.

Obwohl das Dokudrama sich zurückhält, sind die Taten schwer erträglich

Hätte man dieses Prinzip in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg allein für das am Holocaust beteiligte Personal gelten lassen, die Bundesrepublik hätte Zehntausende Verfahren mehr führen müssen - die nie geführt wurden. Und schon die britischen Fahnder in diesem Film verzweifeln beinahe: Auf jeden noch so prominenten Mörder, den sie verhaften, kommen Hunderte seiner Helfer und Komplizen; aber so viele Verfahren will die britische Militärverwaltung nicht führen.

Dennoch, die Erfolge der War Crimes Investigation Unit 1945/46 sind beachtlich, und "Nazijäger" illustriert diese Geschichte so drastisch wie intensiv: Zu den Gefassten gehören neben Höß unter anderem Bruno Tesch, Geschäftsführer der Firma, die das Giftgas für den Genozid herstellte, der Lagerkommandant von Bergen-Belsen, Josef Kramer, und der SS-Arzt Alfred Trzebinski, der am Bullenhuser Damm in Hamburg grauenvolle Tuberkulose-Experimente mit jüdischen Kinder aus Auschwitz betrieb und sie alle ermorden ließ. Obwohl das Dokudrama sich noch zurückhält, sind die Taten schwer erträglich, die es nicht zu drastisch zeigen will und doch zeigen muss. Bewegend sind die Gespräche mit zwei Zeitzeuginnen aus Italien, den Schwestern Andrea und Tatiana Bucci, sie waren als deportierte jüdische Kinder in Auschwitz und mussten zusehen, wie ihr kleiner Cousin Sergio abgeholt wurde - er kam zum Bullenhuser Damm und niemals zurück.

Man merkt dem Film die Leidenschaft des Regisseurs Raymond Ley für sein Sujet an, sein Dokudrama ist auf jeden Fall sehenswert. Trotz einer Schwäche: "Nazijäger" will zu viel auf einmal zeigen, nämlich die tägliche Konfrontation der Fahnder mit dem Finstersten im Menschen - und zugleich die Tragödie der Kinder vom Bullenhuser Damm. Das führt dazu, dass die War Crimes Unit trotz des Titels zu blass bleibt, zu wenig auserzählt. Irgendwann verschwindet sie plötzlich aus dem Film, übrigens auch die Gefassten.

Ohne die britische Sonderheit wären sie womöglich über die "Rattenlinie" flüchtiger SS-Leute, die bis nach Südamerika führte, der Justiz entkommen. Selbst wenn nicht: Es ist keineswegs auszuschließen, dass manche von ihnen - wie so viele andere - in den Genuss von Begnadigungen und milden Strafen gekommen wären, hätte man sie ein paar Jahre später gefasst. Dieses Glück hatten in diesem Drama gezeigten Verhafteten nicht: Fast alle wurden zum Tod verurteilt und 1946 in Hameln hingerichtet. Höß wurde 1947 in Polen gehängt.

Nazijäger - Reise in die Finsternis , Sonntag, 21.45 Uhr, Das Erste.

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