Die Fragen zum Selbstverständnis des politischen Journalismus, die Meyer aufwirft, müssen nicht in weinerlichem Ton vorgetragen werden; sie verdienen bessere Antworten als gekränkte Räsoniererei. Politiker wissen ja durchaus, wie sie sich der Medien bedienen - auch Steinbrück wusste das zu gegebener Zeit, und Wulff wusste das bei seinem politischen Aufstieg auch. Man muss das über der Brutalität, mit der Wulff als Bundespräsident in den Rücktritt getrieben wurde, nicht vergessen.
Der Fall Wulff spielt ziemlich genau fünfzig Jahre nach der Spiegel-Strauß-Affäre, fünfzig Jahre nachdem der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß die Redaktion des Spiegel durchsuchen und die Köpfe des Nachrichtenmagazins verhaften ließ. Dieser Maßlosigkeit der Politik folgte also die Maßlosigkeit der Medien. Verbindendes Element ist die Exzessivität, mit der sich jeweils eine Macht präsentiert und inszeniert. Das Kernanliegen des Journalismus-Kritikers Meyer ist deshalb richtig: Pressefreiheit ist nicht dafür da, Journalisten lustvolle Gefühle zu verschaffen. Sie ist nicht die Freiheit zur Selbstermächtigung und Selbstbefriedigung, die in einem Rücktritt den Höhepunkt findet.
Die Causa Wulff bietet Anlass zur Gewissenserforschung. Dazu eignet sich am besten ein Satz von Paracelsus, dem großen Arzt aus dem 16. Jahrhundert: Dosis sola venenum facit - allein die Menge macht das Gift. Es darf das Gefühl für die Dosierung, es dürfen die Maßstäbe und die grundlegenden Rechtsprinzipien nicht verloren gehen, zu deren Verteidigung die Pressefreiheit da ist. Zu den grundlegenden Rechtsprinzipien gehört, bei strafrechtlichen Vorwürfen, die Unschuldsvermutung. Alle Eingriffe dürfen nur so weit gehen, dass man sie gegenüber einem Verdächtigen, der in Wahrheit unschuldig ist, noch verantworten kann. Diese Verantwortung hat die Justiz, diese Verantwortung haben die Medien. Dieser Verantwortung werden sie nicht immer gerecht. Darüber muss man diskutieren - aber nicht in so beleidigtem Ton, wie Meyer das macht.
Die Agenda 2010 war auch Ergebnis einer nie dagewesenen publizistischen Großkampagne
Rudelverhalten, Mainstreaming: Meyer beklagt, dass an die Stelle der alten politisch-ideologischen Bastionen auch im Journalismus "postmoderne Beweglichkeit" getreten sei, die allerdings nicht dazu führe, dass die Journalisten vielfältige Positionen beziehen - "im Gegenteil: Sie suchen alle den Schutz der Herde." Das lässt sich natürlich am Fall Wulff, auch am Fall Steinbrück exemplifizieren. Aber problematisch sind diese Dinge ja nicht nur dann, wenn sie gerade der politischen Haltung des Medienkritikers widersprechen.
Das von Meyer beklagte Mainstreaming hat sich auch gezeigt, als der SPD-Kanzler Schröder seine Agenda 2010 vorstellte - und sie allenthalben bejubelt wurde. Diese Agenda war auch Ergebnis einer publizistischen Großkampagne, wie es sie in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hatte. Die Situation in Deutschland wurde von den Schlagzeilen und von den politischen Talkshows über Jahre hin so katastrophalisiert - Deutschland im Niedergang, Deutschland als Schlusslicht Europas -, dass fast alles, was sich Reform nannte, die Vermutung des Notwendigen für sich hatte. Die Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens wurde auch vom Journalismus jahrelang wie ein Dogma verkündet. Das stört Meyer in seiner Medienkritik nicht. Es war dies damals ja Schröder'sche SPD-Politik.
Die Pressefreiheit ist für die Demokratie da - aber nicht, wie Meyer es gern hätte, exklusiv für die Sozialdemokratie. Und so muss man wohl darauf warten, dass ein Vorschlag von Meyer umgesetzt wird: dass Journalistenpreise für Selbstkritik ausgelobt werden. Die fällt dann hoffentlich tiefgründiger aus als die Journalismuskritik von Thomas Meyer. Wenn Journalismus zum Schlachtfest gerät, muss Medienkritik mehr sein als die Wurstsuppe.
Thomas Meyer: Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren. Edition Suhrkamp, Berlin 2015. 186 Seiten, 15 Euro.