Favoriten der Woche:Eine Hommage an die Trägheit

Lesezeit: 4 min

Blick auf ein baufälliges Gebäude im Zentrum der Kleinstadt Tribsees, 2021. Hier gibt es jede Menge zu tun - viele, viele Möglichkeiten. (Foto: Imago Images/BildFunkMV)

Ton Matton dokumentiert im Buch "Slow Urban Planning", was in einer verödenden Kleinstadt alles möglich ist. Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Stefan Fischer, Gerhard Matzig, Helmut Mauró, Alexander Menden und Felix Stephan

Urbanismus: "Slow Urban Planning"

Tribsees ist eine Landstadt zwischen Rostock und Greifswald. Vier Meter über Normalnull, 2669 Einwohner, 70 von 240 Häusern sind unbewohnt - und auf der Website heißt es: "keine Termine". Tribsees könnte man also, wäre das Städtchen nicht eine Perle, als freundliches Kaff beschreiben. Aber für Ton Matton ist Tribsees Utopia. Der Stadtplaner aus Rotterdam heißt übrigens nicht Tom, sondern definitiv Ton - und der macht ja die Musik.

Wer Matton einlädt in die Stadt, muss übrigens verzweifelt sein, denn abgesehen davon, dass der Mann Raum-Stratege ist, ist er auch ein Raum-Anarchist. Also genau richtig, um zusammen mit seinen Studierenden eine sehr kleine Kleinstadt in einen sehr großen Wahnsinn, vielleicht aber auch in eine mittelpragmatische Zukunft zu führen. Im Buch "Slow Urban Planning" (160 Seiten, 34 Euro) aus dem Verlag Jovis, der zu den anregend wildernden Verlagen für Architektur, Urbanismus und Zwischen-den-Ritzen-Schimmerndes gehört, führt das Sehnsuchtspotenzial von Tribsees aber nicht zu hektischem Aktionismus, sondern zu einer Hommage an die Trägheit. Richtig gelesen: Trägheit ist etwas Fantastisches, das in delirierend bis sinnlos durchdynamisierten Zeiten zur Hoffnung werden kann. Vor allem dann, wenn sie sich mit der Kreativität und der Pragmatik paart.

Wie in vielen ländlichen Regionen in Deutschland leidet auch Tribsees unter Leerstand und Wegzug. Vor drei Jahren kam deshalb Matton in die darniederliegende Stadt, samt Künstlern und Studenten - um was zu tun? Um Häuser temporär umzugestalten, neu und anders zu nutzen, um Straßenräume anders zu bespielen. Um also Tribsees neu zu erfinden. Für den Augenblick. Das Buch dokumentiert, was möglich ist: Tango tanzen, Camping auf der Straße, eine Regenschirmumfrage, ein Freiluftkino, eine Synchron-Bügel-Party und ein Rednerpult, das aus den Resten eines eingestürzten Hauses erbaut wurde.

Natürlich wohnt in Tribsees immer noch vor allem die Krise. Klar. Und der Leerstand. Sowieso. Aber dass Tribsees - außer einer Perle - nicht nur ein Ort voller Abriss-Ängste ist, sondern auch ein grandioser Möglichkeitsraum, das weiß man jetzt eben auch. Vielleicht geht es ja mal wieder aufwärts. Schön langsam, schön träge, schön nachhaltig, schön zufällig. "Keine Termine": Das ist ja eigentlich etwas irrsinnig Schönes. Gerhard Matzig

Zeitgeschichte: Tonio Schachingers Buchpreisrede

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Als Tonio Schachinger der Deutsche Buchpreis verliehen wurde, stand er auf der wohl größten Bühne, die einem Autor in Deutschland geboten wird: Das Fernsehen ist da, später macht die Tagesschau was. Dort Worte zu finden, nach dem Massaker der Hamas, ist keine leichte Aufgabe. Umso mehr Applaus verdient deshalb, wie Schachinger mit dieser Lage umgegangen ist. Er wisse, sagte er, dass es sinnlos sei, wenn er jetzt irgendwas dazu sage, "ein lächerlicher kleiner Autor aus Österreich", aber es sei auch schwer, nichts dazu zu sagen. Es sei schwer, zu sprechen, wenn man nicht betroffen sei, es sei aber auch schwer, dass immer diejenigen sprechen müssen, die davon betroffen sind. Er habe nichts beizutragen, außer dass er hoffe, dass Menschen nicht umgebracht werden. Die Rede war zugleich bescheiden, ambitioniert und würdevoll, ohne je ins Feierliche abzusinken. Dass selten so glanzvoll nichts und gleichzeitig alles gesagt worden ist, sei an dieser Stelle kurz festgehalten.

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Hörspiel: 100 Stücke aus 100 Jahren

"100 aus 100: Die Hörspiel-Collection" (ARD Audiothek). (Foto: ARD Audiothek)

"Ich kann ohne Hörspiel nicht leben!" - Dieser Satz ist einer der tollkühnsten und natürlich auch selbstbewusstesten, die jemals in einem Hörspiel gefallen sind. Sophie Rois plärrt ihn in Christoph Schlingensiefs "Rocky Dutschke 68" ins Mikrofon. Ja: Schlingensief hat auch drei Hörspiele kreiert, allesamt prägende Werke. Nicht zuletzt das zeichnet die Gattung aus: Sie reizt die erste Garde der Schauspielerinnen und Schauspieler sowie herausragende Autoren, Regisseure und Musiker, sich spielfreudig in dieser Kunstform auszudrücken. Das Hörspiel ist eng an das Medium Radio gekoppelt und auch beinahe so alt wie das Radio selbst, es feiert also bald ebenfalls seinen Hundertsten.

Weshalb nun der Podcast "100 aus 100" startet. Bis kommenden Sommer veröffentlicht die ARD in ihrer Audiothek in Summe 100 bemerkenswerte Hörspiele aus den vergangenen 100 Jahren. Quer durch alle Jahrzehnte und viele Subgenres. Auf ihre Weise sind alle Stücke Klassiker, auch wenn Hörspiele Eingang in diesen Podcast finden werden, die selbst Fans womöglich noch nicht kennen. Katarina Agathos, Hörspiel-Dramaturgin des Bayerischen Rundfunks, die aus den Vorschlägen ihrer Kolleginnen und Kollegen der übrigen ARD-Sender und des Deutschlandradios die finale Auswahl getroffen hat, hebt hervor, dass es sich weder um einen Hörspiel-Bildungskanon handelt, noch um eine Liste der erfolgreichsten Hörspiele - "dafür würden auch schlicht die Kriterien fehlen", so Agathos.

Insofern ist "100 aus 100" eine im Einzelfall womöglich willkürliche, in Summe aber sehr kluge, spannende und anregende Auswahl. Wer diese Stücke hört, bekommt eine Vorstellung davon, was Hörspiel kann: ästhetisch, intellektuell, emotional, inhaltlich, formal, sprachlich, musikalisch ... Der Podcast startet mit "SOS Rao Rao Foyn" von Friedrich Wolf (Reichsrundfunkgesellschaft 1929), worin das Radio selbst eine zentrale Rolle spielt bei der Rettung eines Nordpol-Expeditionsteams. Dazu "Die Zikaden" von Ingeborg Bachmann (NWDR 1955), "Apollo Amerika" von Ferdinand Kriwet (SWF/BR/WDR 1969), "Die Wörter sind böse" von Rolf Dieter Brinkmann (WDR 1974) sowie das legendäre "War of the worlds" von Orson Welles in einer kommentierten Fassung (RB 1998). "Rocky Dutschke 68" ist natürlich auch Teil dieser Edition. Stefan Fischer

Klassik: "Rachmaninoff 150"

(Foto: Berliner Philharmoniker Recordin)

Dieses Klavierkonzert ist ein Statement. Nicht das große Symphonieorchester beginnt und bittet dann den Solisten hinzu - nein, diesmal schreitet der Steinway majestätisch voran, das Orchester kommt später nach. Sergei Rachmaninoff wird - anders als etwa in den USA - hierzulande vielleicht ein wenig unterschätzt. Sein vielgespieltes Zweites Klavierkonzert ist nicht nur ein saftiger Kassenschlager, sondern auch ein hochkomplex durchdachtes Kunstwerk. Das hört man diesmal bei dem Pianisten Kirill Gerstein mit den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Kirill Petrenko besonders deutlich. Es ist mehr ein Spiel mit Ausdrucksmöglichkeiten als mit Klangvarianten, weshalb das Klavier wirklich gleichwertig sein kann - trotz des immer wieder herrlich überschäumenden Orchesters. Helmut Mauró

Kunst: Friedensinstallation "forx"

Die Zinken hat der Künstler unschädlich gemacht. Vielleicht besser so, angesichts der aktuellen Weltlage. (Foto: IMAGO/Detlef Heese/epd)

Am 24. Oktober jährt sich zum 375. Mal der Westfälische Frieden, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete. Ausgehandelt wurde er in Münster und im etwas weiter nördlich gelegenen Osnabrück. Der Künstler Volker-Johannes Trieb hat jetzt vor dem historischen Osnabrücker Rathaus, auf dessen Stufen der Frieden 1648 verkündet wurde, eine Arbeit installiert, die an die Mechanismen des Krieges erinnern soll: "forx" heißt das weiß getünchte Gitter aus exakt 1648 Heugabeln, das sich vom Treppenansatz bis ans Rathausdach spannt. Solche Heuforken wurden jahrhundertelang von Bauern zu Waffen umfunktioniert. Nun ragen sie als Mahnmal auf, ihre in Holzscheiten steckenden Zinken unschädlich gemacht, fragil und prekär, wie der Frieden selbst. Nicht Schwerter zu Pflugscharen also, sondern Gabeln zu Waffen - zu Kunst. Alexander Menden

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