Favoriten der Woche:Schrei nach Gerechtigkeit

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Die Künstlerin Jana Shostak bei ihrer Performance "One Minute Scream" beim diesjährigen Berliner Theatertreffen. (Foto: Jana Shostak/ Theatertreffen/Fabian Schellhorn)

Das Buch "Status Quote" gibt Einblicke in den Sexismus der Theaterwelt: Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Harald Eggebrecht, Fritz Göttler, Peter Laudenbach, Cornelius Pollmer und Egbert Tholl

Buch: "Status Quote" über Sexismus beim Theatertreffen

Manchmal genügt ein wohlplatzierter Schubser, um verkrustete Verhältnisse in Bewegung zu bringen. So ein Schubser ist Yvonne Büdenhölzer, der damaligen Künstlerischen Leiterin des Berliner Theatertreffens, vor vier Jahren mit der Einführung einer zunächst irritierenden Regelung gelungen. Seitdem sorgt eine verbindlich geltende Quote dafür, dass mindestens die Hälfte der zehn zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen von einer Regisseurin stammen muss. Die Frauen-Regie-Quote ist ohne Frage ein Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der eigentlich unabhängigen Auswahl-Jury. Zudem ist es eine kunstferne Formalie bei einem Festival, bei dem es eigentlich nur um künstlerische Qualität gehen sollte. Es grummelte damals auch ein wenig, vermutlich gab es einige Stimmen, die wahlweise etwas von "Wokeness-Zumutung", "Quoten-Frauen" oder "Cancel Culture" seufzten. Vier Theatertreffen-Jahrgänge später ist die Regisseurinnen-Quote eine Selbstverständlichkeit, schon weil sie dem Festival offenbar gut getan hat. Der Blick in frühere Jahrzehnte des Festivals genügt, um vor der strukturellen Misogynie des Theatertreffes als Abbild des Theaterbetriebs zu erschrecken. In den ersten 50 Jahren stammten exakt 40 der 500 eingeladenen Inszenierungen von Regisseurinnen: weniger als ein Zehntel.

Jetzt ziehen die Theaterkritikerinnen Sabine Leucht, Petra Paterno und Katrin Ullmann in erhellenden, klugen und persönlichen Interviews mit den seit 2020 zum Theatertreffen eingeladenen Regisseurinnen eine Zwischenbilanz. Ungebrochen happy sind die wenigsten mit der Quote - vor allem nicht damit, dass sie offenbar dringend nötig war: "Die Frauenquote wurde eingeführt, damit sie sich selbst abschafft", findet die Regisseurin Claudia Bauer. Für Helgard Haug von "Rimini-Protokoll" ist sie schlicht ein Akt der "Notwehr", und Anne Lenk konstatiert trocken, "dass es jahrelang eine heimliche Männerquote gab". Weil man in den Gesprächen jede Menge über Produktionsverhältnisse, Arbeitsweisen und Bastionen des Sexismus im Theater erfährt, dürfte das Interview-Buch (Status Quote, Theater im Umbruch. Henschel Verlag) die spannendste Theaterlektüre des Jahres sein. Peter Laudenbach

Lyrik: "Yuba" von Albert Ostermaier

Albert Ostermaier: Yuba. Gedichte, Steidl Verlag, Göttingen 2023, 64 Seiten. 18 Euro. (Foto: Steidl Verlag)

Yuba ist ein Landstrich im Norden Kaliforniens, "Yuba" heißt der neue Gedichtband von Albert Ostermaier. Grundlage der Inspiration ist die Arbeit "The Parochial Segments" der Fotografin Maya Mercer, glühende Landschaften, leer, verwüstet. Ostermaier vertont die Bilder mit seiner Sprache, erfüllt sie mit Leben, erzählt von der Härte dieser Gegend, von Gewalt, Drogen, Totschlag, vom Schlachthaus. Alles ist bestimmt von einem tödlichen Patriachat, von den Wunden, die der Kolonialismus hinterließ. "Unter schweren männer händen gewürgt geschlagen in den dreck gedrückt und genommen wie ein huhn dem die kehle durchschnitten wird." Die Sätze rasen über die Zeilenenden hinweg, Kino, Rausch. Und dann: der Umschlag. Die Selbstermächtigung der schwarzen Bevölkerung, Überwindung, neues Leben. Ganz starker, harter Stoff. Egbert Tholl

Leipzig: Wave-Gotik-Treffen

Von links nach rechts: Xenia, Manni und Robin aus Nordrhein-Westfalen. (Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Zum Wave-Gotik-Treffen kommen jedes Pfingsten nicht nur Tausende ausnehmend höfliche und friedliche Menschen nach Leipzig, es kommt mit ihnen für vier Tage auch eine wunderschöne Illusion: Alle könnten, alles könnte ganz anders sein. Beim europaweit größten Treffen der schwarzen Szene brach man mit Normen, schon bevor das Pochen auf deren Einhaltung medialer Volkssport wurde. Erlaubt ist auch zum 30. WGT, was gefällt - von Fußglöckchen, die bei jedem Schritt massiger Männer lustig läuten über umsichtige Frauen, die ihren Mann beim Platznehmen in der Kirche zum schwarzen Gottesdienst warnen ("Vorsicht, dein Rock!") bis zum Heimatsender MDR, der in seinem Online-Angebot auch servicejournalistisch schon mehr als bereit ist für das Wave-Gotik-Treffen, Überschrift: "Diese fünf Friedhöfe in Leipzig sollten Sie gesehen haben". Cornelius Pollmer

Klassik: Hans Werner Henzes "Royal Winter Music"

"Now is the winter of our discontent", so beginnt Richard Gloucester den Eingangsmonolog in Shakespeares Drama "Richard III.". Dieser "Winter unseres Missvergnügens", wie Schlegel/ Tieck einst übersetzten, inspirierte Hans Werner Henze zum Titel seines großartigen Gitarrenmusikzyklus "Royal Winter Music", dessen zwei Teile er 1975/76 und 1979 komponierte und dem legendären britischen Lautenisten und Gitarristen Julian Bream (1933-2020) widmete. Bream arbeitete auch mit dem Komponisten zusammen, der so die instrumentaltechnischen und klanglichen Möglichkeiten der Gitarre voll ausreizen konnte und sollte. Von dieser Musik in Qualität, Schwierigkeit und Zukunftswirkung für die Gitarre erwartete Bream nichts weniger als ein Pendant zu dem, was Ludwig van Beethovens revolutionäre "Hammerklaviersonate" für die Klaviermusik bedeutet. Seltsamerweise brachte er nur den ersten Teil zur Uraufführung, den späteren zweiten nicht. Henze bezeichnete beide Teile der "Royal Winter Music" als Sonaten. Doch viel mehr sind sie ein weit ausgreifender Reigen Shakespearescher Geister: Nach dem bösen Gloucester, dem späteren Richard III., folgen Romeo und Julia, Ophelia, Ariel, Touchstone, Audrey und William aus "Wie es Euch gefällt" und Oberon. Im zweiten Teil folgen noch aus "Was Ihr wollt" Junker Christoph von Bleichenwang, Zettels Traum und die wahnsinnige Lady Macbeth.

Der italienische Gitarrist Marco Minà hat diese neun Charakterstücke erstmals auf Basis der Manuskripte eingespielt, nachdem er einst Henze in seiner Villa La Leprara besucht hatte und auf Ungereimtheiten zwischen der Druckversion von Julian Bream und Henzes Originalhandschrift hingewiesen hatte. Minà korrigiert in seiner bestechenden Aufnahme so nicht nur etliche Fehler, sondern er setzt zwischen die einzelnen Charaktere auch jeweils jenes Ritornello, wie es Henze gewünscht hatte. Unter Minàs Händen entsteht eine hinreißend geistreiche Folge von Gestalten, die nicht an die Hammerklaviersonate denken lässt, sondern vielmehr an Robert Schumanns vielfigurigen "Carnaval". Voller Abwechslung, Brillanz und Gedankenreichtum gelingt Marco Minà das Shakespeare-Panorama. Dazu eine DVD über die Henze-Villa. (NovAntiqua). Harald Eggebrecht

Kino: Josef von Sternberg im Filmmuseum München

Marlene Dietrich in "Morocco". (Foto: Josef von Sternberg/Münchner Filmmuseum)

Das Erschießungskommando ist nervös, die Frau vor ihm dagegen ganz cool. Sie nutzt den Säbel des Offiziers als Spiegel, damit alles perfekt sitzt, legt schnell noch Lippenstift nach: "Dishonored" heißt der Film, 1931, Regie Josef von Sternberg, dem das Filmmuseum München nun eine große Retrospektive widmet. Ein Kind Wiener Auswanderer, von Chaplin fürs Kino entdeckt, ein totaler Filmemacher, er bestimmte einfach alles auf seinen Sets, Bauten, Kostüme, Licht, die Kamera - eine Omnipotenz, elegant und exzentrisch, an der nichts skandalös war. Akteure waren Marionetten für ihn, aber er fühlte sich von ihnen inspiriert. Für "Der Blaue Engel" entdeckte er in Berlin Marlene Dietrich, die er in Hollywood zum Star machte - sie war bei ihm Prostituierte und Sängerin, in Marokko oder Shanghai, die Zarin Katharina die Große und Agent X 27, eine Spionin, in "Dishonored". Absolute Kontrolle: Er bat die Mitarbeiter, ihre Armbanduhren abzulegen, wenn ihn deren Ticken in der Konzentration störte. Fritz Göttler

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