Favoriten der Woche:Sich durchboxen im Leben

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Die Ausstellung "Home Street Home - Wege aus der Obdachlosigkeit' zeigt Perspektiven und Schicksale von 18 porträtierten Menschen. (Foto: Arndt Oehmichen/Deutscher Bundestag)

Debora Ruppert hat Menschen fotografiert, die der Obdachlosigkeit entkamen. Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Jakob Biazza, Stefan Fischer, Carolin Gasteiger, Boris Herrmann und Marc Hoch

Ausstellung: "Home Street Home"

Es ist ein langer Weg von der Straße in den Bundestag. Für Ralf-Peter Gläser, 60 Jahre, davon acht wohnungslos, war es auch ein Weg der Erkenntnis: Anscheinend interessiert sich doch jemand für ihn und sein Leben.

Gläser hat zum ersten Mal ein Gebäude des Bundestags betreten, als dieser Tage im Paul-Löbe-Haus die Fotoausstellung "Home Street Home" eröffnet wurde. Dort stand er dann als Ehrengast vor Bildern, auf denen er sich und seinen Alltag betrachten konnte, rauchend auf dem Balkon, geschirrspülend in der Küche, die drei Plüschtiere auf dem Fenstersims. Das sind seine Mitbewohner. Jahrelang, sagt Gläser, habe "kein Hahn nach ihm gekräht". Und dass seine Geschichte jetzt an diesem Ort erzählt wird, in dem großen Foyer, wo im vergangenen Jahr der Bundespräsident wiedergewählt wurde, das ist nun auch ein Teil dieser Geschichte geworden.

Die Fotografin Debora Ruppert reiste monatelang durch Deutschland, um 18 Menschen zu porträtieren, die auf der Straße lebten und wieder ein zu Hause gefunden haben. Ehemals Wohnungslose laden zur Wohnungsbesichtigung ein - das mag nach einer leicht verkopften Idee klingen, aber das Ergebnis ist höchst eindrucksvoll. Wohnen ist ein Menschenrecht, und diese 18 Menschen haben es sich wieder zurückerkämpft. Teils mit viel Mühe, teils mit ein bisschen Glück oder - auch das gibt es - mit sinnvoller Wohnungspolitik wie dem Projekt "Housing First". So ist auch Ralf-Peter Gläser wieder zu einer Wohnung in Berlin-Gropiusstadt gekommen.

Davor lebte er fast acht Jahre lang in Notunterkünften für Obdachlose, "wegen eines ungünstigen Schufa-Eintrags" hat ihm niemand etwas vermieten wollen. Gläser war Landschaftsgärtner, Malerhelfer und Feuerschlucker im Zirkus. Der erste Teil seiner Geschichte ist die eines Mannes, der versucht, sich durchzuboxen im Leben, aber irgendwie immer Pech und irgendwann kein Dach mehr über dem Kopf hat. Dass man als unbescholtener Bürger von heute auf morgen auf der Straße landet, das kann man nach seiner Erfahrung gar nicht verhindern. "Das kommt, wie es ist."

Ruppert erzählt von seinem Happy End und den 17 anderen einfühlsam, unaufgeregt und ohne eine Spur von Verklärung. Nicht nur in Gläsers Fall erkennt man: Eine Einbauküche kann auch Einsamkeit bedeuten. Boris Herrmann

Kamera-Magazin: "Camera"

Das neue Fotomagazin "Camera" widmet sich dem analogen Film. (Foto: atoll medien)

"Film ist not dead" lautete der Schlachtruf vor ein paar Jahren im Internet. Was klang wie die Verzweiflung einiger Freaks vor der Guillotinierung durch das Digitale, hat längst eine größere Szene weltweit zum Leben erweckt. Die analoge Fotografie lebt, und wie sehr sie lebt, zeigt das neue Magazin Camera, in dem sich alles um das Fotografieren mit dem echten alten Film dreht. Die erste Ausgabe ist vielversprechend: tolle Fotos, interessante Überblicksgeschichten (etwa über die ruhmreiche japanische Kameramarke "Pentax") und aussagekräftige Tests über relativ neue Farbfilme. Sie macht Lust darauf, die alten Fotoapparate wieder in die Hand zu nehmen und Porträts in Schwarz-Weiß zu schießen. Wie schön, ja wie einzigartig die sein können, zeigen auch die Bilder der Schweizerin Chantal Convertini, die Camera im Interview vorstellt. Marc Hoch

Graphic Novel: "I'm Still Alive"

Der Kampf gegen die Mafia als Graphic Novel: Roberto Savianos "I'm still alive". (Foto: Cross Cult Entertainment)

"Was ihr gleich lest, ist meine Wunde": Diese Worte stehen zu Beginn des Buches von Roberto Saviano, das unter dem Titel "Sono ancora vivo" bereits 2021 in Italien erschienen ist. Was folgt, ist Tagebuch, Prozesschronologie und politisches Manifest, die Mischung überspannt die vergangenen 15 Jahre.

5457 Tage, heißt es in dem Buch, ist es her, seit Roberto Saviano in seinem Bestseller "Gomorrha" die kriminellen Aktionen der Mafia und Verwicklungen in die Politik in seiner Heimat Casal di Principe aufgedeckt hat. Seitdem bekommt er Morddrohungen. Aber sein Einsatz geht über den Kampf gegen die Mafia hinaus. Saviano, in Italien eine wichtige Stimme für die Linken, ist inzwischen für die Rechten ein Hassobjekt. Seine Sendung bei der Rai, die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gerade peu-à-peu zu ihren Gunsten umstrukturiert, wird nicht ausgestrahlt, wegen Beleidigung Melonis als "Bastard" wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt.

Der israelische Zeichner Asaf Hanuka hat Savianos Zerrissenheit in deutlichen Bildern festgehalten. Natürlich geht es viel um Savianos Hauptgegner, die Mafia, Szenen aus Gerichtsprozessen kommen vor, aber auch Erinnerungen an die Mutter, den Großvater, seinen Bruder, dem er das Buch gewidmet hat. Auch Wut kommt vor: Mal zeichnet Hanuka Roberto Saviano als eingesperrten Gorilla, der die Zähne fletscht. Oder Verzweiflung: Da sitzt der Protagonist in einer Rüstung, nach einem geplatzten Date. Auf dem Cover steht ihm das Wasser nicht nur bis zum Hals, sondern bis über die Nase. Ein Grund für das Buch war, dass er in einer Graphic Novel das ausdrücken könne, was er mit Worten nicht vermag, sagt er in Interviews.

"I'm still alive. Im Fadenkreuz der Mafia" (im Cross Cult Verlag) ist keine leichte Kost. Aus den Zeichnungen sprühen Wut, Nachdenklichkeit, Verzweiflung. Das Buch, in dem die enge Schrift leider sehr schwer zu lesen ist, wirkt wie eine sehr persönliche Kampfschrift Savianos, gegen das Vergessen, gegen das Übersehen, gegen das Sich-Abfinden. Die Botschaft ist klar: An einer Stelle imaginiert Saviano sein eigenes Begräbnis, am Ende bricht seine Faust aus dem Sarg: "Ich lebe noch, ihr Bastarde." Carolin Gasteiger

Hörspiel: "Krähe privat"

Nebelkrähen fliegen in der Abenddämmerung in Norwegen. (Foto: imago stock&people/blickwinkel)

Tom Ripley, Frank Abagnale, Anna Sorokin - verglichen mit Krähe sind das nur Hochstapler im Taschenformat. Sie haben sich, egal ob literarische Figur oder reale Person, schnöde Vorteile erschlichen, einzig wegen des materiellen Gewinns. Krähe jedoch, von dem man annehmen darf, dass es sich bei ihm tatsächlich um einen Vogel handelt, behauptet, die westliche Kultur der vergangenen Jahrzehnte geprägt, ja überhaupt erst erschaffen zu haben. Wie Forrest Gump ist er immer zur Stelle, wenn Entscheidendes passiert, nur nicht welt-, sondern popgeschichtlich. "Krähe privat" (SWR 2, 28.10., 23 Uhr) ist der krönende Abschluss der anspielungssatten und sehr komischen "Krähe"-Hörspiel-Trilogie des Autors Ulf Stolterfoht und des Musikers Thomas Weber. Mit einer Hauptfigur, die kulturelle Aneignung mit beeindruckender Lässigkeit betreibt. Stefan Fischer

Halloween-Album: "Duran Duran"

Duran Duran und ihr Halloween-Album "Danse Macabre". (Foto: BMG)

Die britischen Synthie-Exzentriker von Duran Duran haben ein neues Album. Nicht im ganz herkömmlichen Sinne neu, ein paar der Songs - "Nightboat" etwa oder "Secret Oktober 31st" - stammen aus dem eigenen Katalog und sind nur neu bearbeitet. Dazu gibt es auf "Danse Macabre" ein paar Cover-Songs: eine ziemlich tolle, mit allerlei Dunkelheit, Rumpel-Drums und schweren Bässen verhangene Version von Billie Eilishs "Bury a Friend" etwa. "Paint It Black" von den Stones oder "Psycho Killer" von den Talking Heads. Ihr eigener Song "Lonely In Your Nightmare" geht, nicht wahnsinnig subtil, in Rick James' "Superfreak" über, heißt dann "Super Lonely Freak" und macht darin durchaus Spaß. Der ehemalige Gitarrist Andy Taylor ist auf ein paar Songs wieder mit dabei, was nun absolut fantastisch ist. Außerdem ist das Ganze - warum auch immer - ein Halloween-Album. Jakob Biazza

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