Bodensee:Weltflucht für alle

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Die prächtige und toll erhaltene Kirche St. Georg auf der Klosterinsel Reichenau gehört zu den Welterbe-Stätten. Ihre singulären Fresken stammen aus ottonischer Zeit. (Foto: Theo Keller/© Tourist-Information Reichenau)

Vor 1300 Jahren entstand auf der Insel Reichenau ein Kloster, das zu einem kulturellen Zentrum Europas wurde. Das wird jetzt vor Ort gefeiert - und mit einer großartigen Ausstellung in Konstanz.

Von Johan Schloemann

Push-Nachricht von Gott: jetzt bitte beten und singen. In der App zum Jubiläum des Bodenseeklosters Reichenau kann man sich einen Mönchsmodus einstellen. Man bekommt dann Nachrichten zu den Stundengebeten oder Arbeitszeiten aufs Handy, mit denen die Benediktiner ihren regelmäßigen Tagesablauf streng gegliedert haben. Nur zum Nachtgebet bleibt das Telefon still - also zur Matutin, die traditionell zwischen Mitternacht und frühem Morgen gebetet wird: Das würde sonst doch allzu arg in unseren heutigen Biorhythmus eingreifen.

Diese digitale Spielerei zeigt die immer wieder neue Faszination für jene christlichen Menschen, die sich in ihrer Abgeschiedenheit alle Zeit der Welt für das genommen haben, was sie für das Wesentliche hielten: die Andacht. Die Pushmitteilungen erinnern aber auch daran, wie viel Organisation im Kloster nötig war - was dort Sonne und Mond, Kalender, mechanische Uhren und Glocken leisteten, um Tag und Nacht zu strukturieren, das trifft hier auf etwas unheimliche Weise zusammen mit dem Terminstress der Gegenwart auf dem Smartphone.

Weltflucht und Weltgestaltung lässt sich hier auf sehr besondere Weise erleben

Und so ist es auch mit dem Klosterleben des Mittelalters insgesamt: Sehnsuchtsvoll blicken heute die Leute, die gerne mal zur Ruhe kämen, auf ein fremdes, asketisches Frömmigkeitsregime - das Interesse daran lässt sich in allerlei Business-Retreats, Ausstiegsfantasien und aufgemotzten Klosterläden beobachten. Kloster, das ist heute Wellness, Achtsamkeit, "Akku aufladen". Zugleich aber wurde in Europas Klöstern auch vieles überliefert und entwickelt, was die Neuzeit mitgeformt hat: nicht bloß das Zeitmanagement der Mönche, sondern auch Techniken vom Gemüseanbau über die Verfeinerung der Kunst, des Handwerks und der Musik bis hin zur Schriftkultur, zu Schule und Wissenschaften.

All das - also Weltflucht und Weltgestaltung - lässt sich jetzt auf sehr besondere Weise am Bodensee erleben, in einer seltenen Kombination aus Originalschauplatz und prächtiger historischer Sonderausstellung. In der früheren Bischofs- und heutigen Universitätsstadt Konstanz hat das Badische Landesmuseum - sonst im Karlsruher Schloss zu Hause - eine Schau zur Klostergeschichte mit wirklich spektakulären Leihgaben eingerichtet, und zwar zu Gast im Archäologischen Landesmuseum im Stadtteil Petershausen; das Gebäude beherbergte passenderweise früher mal selbst ein Benediktinerkonvent. Und neun Kilometer entfernt liegt der zweite Teil, das größte Exponat - die fruchtbare Insel Reichenau selbst mit ihren Welterbestätten.

Die Reichenau im Untersee des Bodensees war eine echte Insel, als ein Wandermönch namens Pirmin dort im Jahr 724 das Kloster gegründet und dafür laut Legende Schlangen und Getier in den See getrieben haben soll. Mit der Insel als Standort verband sich ein theologischer Anspruch auf besondere Heiligkeit und Entrücktheit - wie im Chiemsee oder auf dem Mont-Saint-Michel -, auch wenn in Wahrheit reger Schiffsverkehr herrschte. Erst im 19. Jahrhundert schüttete man einen Damm auf, der die Insel ans Konstanzer Festland anschloss und ihr heute neben den Bewohnern klimatisierte Ausflügler-SUVs und Freizeitradler zuführt.

Kulturtouristen kamen immer schon auf die idyllische Reichenau, um das Münster in Mittelzell zu besichtigen, den Kern der früheren Klosteranlage, und die Kirchen am Rand der Insel, St. Peter und Paul sowie St. Georg mit den singulären Fresken aus ottonischer Zeit. Diese Bauten sind die Reste einer ganzen Klosterlandschaft, die mit der Insel einst identisch war. Aber erst seit Verleihung des Welterbe-Status im Jahr 2000 wird an Ort und Stelle für die Besucher mehr Kontext geboten, und die Baugeschichte wurde an der Universität Heidelberg gründlicher untersucht.

Kaiser und der Adel taten zugleich auch etwas für ihr Seelenheil, wenn sie die Klöster stärkten

Für das Jubiläum in diesem Jahr - Start war am Freitag ein Festakt mit Ministerpräsident Kretschmann - hat man die Dauerausstellung im örtlichen Museum Reichenau neu gestaltet, einen geschmackvollen neuen Klostergarten als Nachempfindung angelegt und die Schatzkammer im Münster frisch hergerichtet. Die prominentesten Reliquien dort - angeblich Gebeine des heiligen Markus und Blut von Golgatha - werden bis heute noch an ihren jeweiligen Festtagen über die Insel getragen.

Die Glanzzeit des Klosters Reichenau ist lange vorbei - es wurde im Jahr 1540 dem Konstanzer Bischof unterstellt und 1757 ganz aufgelöst. Ganz anders war das unter den Karolingern und Ottonen, also vom späten achten bis ins elfte Jahrhundert: Die Reichenau war damals eines der kulturellen Zentren des Reiches und besaß viel Land auch jenseits der Insel. Das lag an der guten Lage zwischen dem Rhein und Italien und daran, dass die frühmittelalterlichen Herrscher die Netzwerke ihrer Macht auch über einige wichtige Klöster absicherten. Dezentrale Herrschaft und Föderalismus haben in Deutschland eben eine ehrwürdige Tradition. Praktischerweise taten die Kaiser und der Adel zugleich etwas für ihr eigenes Seelenheil, wenn sie die Klöster stärkten.

Das Widmungsbild des um 980/990 entstandenen "Codex Egberti" zeigt Erzbischof Egbert von Trier, der diese Prachthandschrift von zwei Reichenauer Mönchen überreicht bekommt. (Foto: A.D. Runkel/Wissenschaftliche Bibliothek der Stadt Trier)

Diesen privilegierten Status und die kulturelle Dichte - oft in Partnerschaft mit dem Kloster St. Gallen auf der Schweizer Seite des Bodensees - zeigt die Ausstellung in Hülle und Fülle, anhand von originalen Dokumenten und Kunstwerken sowie mit zugänglicher digitaler Didaktik. Man begegnet gut vernetzten Persönlichkeiten wie dem Abt Waldo, der von Karl dem Großen zum Erzieher seines Sohns Pippin in Italien gemacht wurde, zum Bischof von Pavia und später zum Abt von Saint-Denis bei Paris.

Oder Walahfrid Strabo, einem der wichtigsten Schriftsteller des frühen Mittelalters - ein Wunderkind-Mönch, dessen bekanntestes Werk, der "Hortulus", 24 Heilpflanzen in 444 Hexametern beschreibt (auf Lateinisch natürlich, es gibt eine zweisprachige Reclam-Ausgabe). Walahfrids eigenhändige Beschriftung konnte man auch im berühmten St. Galler Klosterplan identifizieren, einer riesigen, detaillierten Architekturzeichnung. Und man trifft auf einen Universalgelehrten seiner Zeit, Hermann den Lahmen - er war im 11. Jahrhundert Mönch auf der Reichenau, schrieb über Musiktheorie, Geschichte, Mathematik und vieles andere und überführte arabisches Wissen ins Abendland. Eine Reihe von Handschriften kommt aus Karlsruhe, wo die Bestände der früheren Klosterbibliothek verwahrt werden.

Zehn der Prachthandschriften wurden ins Unesco-Weltdokumentenerbe aufgenommen

Während ottonische Kaiser auch persönlich mehrmals auf der Reichenau vorbeikamen, entpuppte sich das Skriptorium der Reichenauer Mönche zu einer Premium-Werkstatt der Buchkunst. Gold, feines Pergament und Purpurfarben kamen dafür über den Hafen auf die Insel, und zwischen den Jahren 960 und 1030 wurden dort üppig ausgemalte liturgische Prachthandschriften produziert. Es waren Auftragswerke, die nicht auf der Reichenau blieben, sondern an wichtige Domstädte geliefert wurden. Zehn davon wurden ins Unesco-Weltdokumentenerbe aufgenommen, fünf davon werden jetzt in Konstanz gezeigt - zum Teil abwechselnd, weil sie nicht so lange dem (ohnehin gedimmten) Licht ausgesetzt sein dürfen.

Das "Hornbacher Sakramentar" ist um das Jahr 970 auf der Reichenau entstanden. (Foto: Uli Deck/ARTIS/Solothurn, Domschatz der St. Ursen-Kathedrale)

Diese Wunderwerke wiedervereint nebeneinander zu sehen, ist natürlich ein Höhepunkt der Ausstellung - denn auch wenn es die Abbildungen und Digitalisate der Manuskripte heute leichter machen, etwas zu vergrößern oder umzublättern, so haben die Originale doch ihre eigene Wirkung. Da ist etwa der für den Kölner Dom geschaffene Gero-Kodex aus Darmstadt, wo die Übergabe des Luxusbuches in einer hinreißenden Szene dargestellt ist - das dann eine Etage höher wiederum dem heiligen Petrus übergeben wird. Oder der Codex Egberti aus Trier, der mit 51 Miniaturen den ältesten Bilderzyklus zum Leben Jesu aus dem Mittelalter überhaupt enthält.

Die Menschen, die diese berühmten Artefakte einst schufen, sind uns eigentlich unendlich fern - sie sprachen Latein, konnten alle Psalmen auswendig und hatten kein elektrisches Licht. Und doch spürt man körperlich, wenn man davor steht, die Bewegung ihrer Hand, ihre Virtuosität, ihre Ehrfurcht.

Welterbe des Mittelalters - 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau. Konstanz, Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, und Insel Reichenau, 20. April bis 20. Oktober. Dazu gibt es einen umfassenden Katalog, einen Tagungsband, eine App und einen Podcast. Info: www.ausstellung-reichenau.de

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