Favoriten der Woche:Die Leichtigkeit der Geste

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Sou Fujimoto bringt die Welt auf Linie. (Foto: Erik-Jan Ouwerkerk)

An den Bauten des japanischen Architekten Sou Fujimoto scheint die Schwerkraft weniger stark zu ziehen. Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Harald Eggebrecht, Gerhard Matzig, Peter Richter, Felix Stephan und Sonja Zekri

Ausstellung: "Primitive Future" in der Galerie Aedes

Manche scheitern schon daran, ein Haus zu zeichnen, ohne den Stift abzusetzen. Der japanische Architekt Sou Fujimoto hat es jetzt hinbekommen, in einem Zug sein Gesamtwerk auf Linie zu bringen und dazu Bäume, Menschen, Tiere: Im Grunde ist es eine komplette Welt, die er als 3-D-Zeichnung mit einem einzigen Draht in die Berliner Architekturgalerie Aedes gehängt hat. Das ist allein schon der scheinbaren Leichtigkeit der Geste wegen spektakulär (bis 30. August). Aber den Eindruck, dass in Japan die Schwerkraft irgendwie weniger stark wirkt, hat man auch vor seinen im Wortsinn zauberhaften Bauten, oft Metamorphosen von Häusern, Bäumen, Sträuchern oder Erdhügeln. Denn die durchgehende Linie ist auch ein Programm, ein Zurück zum vormodernen Zusammenhanggefühl von Mensch und Natur, aber mit dramatisch modernen Mitteln: Romantik in zeitgenössischem Japanisch. Peter Richter

Architektur: Norman Fosters Kurs für Kinder

"Baue deine eigene Stadt", nennt sich das Projekt, das sich an Kinder richtet. (Foto: Foster and Partners)

Norman Foster hat die Kinder entdeckt. Gut so, denn aus Kindern werden Erwachsene - und erwachsene Architektinnen, Bürgermeister und Stadtplaner können diese Welt besser machen. Schlechter auch. Es ist also nicht verkehrt, in die Fähigkeiten von Planern zu investieren. Was aber auch für die Seite derer gilt, die in den Folgen der Planungen leben. In Büros, Wohnungen und Städten. Partizipatorisch wird immer öfter auf Planungen Einfluss genommen. Mit anderen Worten: Sehr viele Menschen gestalten Lebensraum, sehr wenige Menschen wissen, wie das geht. Was ja wiederum sehr viel erklärt. Das Büro Foster + Partners bietet nun Kindern eine Art Ferien-Telekolleg an: "Baue deine eigene Stadt". Wochenweise werden Vorlagen ins Netz gestellt. Damit lassen sich Krankenhäuser, Schulen oder auch Brücken entwerfen. Das ist natürlich nichts anderes als ein Online-Bastelkurs mit Papier und Buntstift - aber den Bildern zufolge ahnt man dies: Kinder wünschen sich eine womöglich andere, schmuckvoller, farbenfroher und fantastischer gestaltete Welt. Als Erwachsener kann man sich dem anschließen. Kinder an die Macht. Gerhard Matzig

Jüdisches Leben: Menora-Zentrum in Dnipro

Das jüdische Kultur- und Geschäftszentrum Menora im ukrainischen Dnipro. (Foto: Imago)

Wer demnächst mal in Dnipro vorbeischaut ... gut, das werden nicht viele sein, Dnipro liegt im Osten der Ukraine, 110 Kilometer vom Atomkraftwerk Saporischschja entfernt. Sagen wir also besser so: Wer irgendwann mal in Dnipro vorbeischaut, sollte, nein, muss das Menora-Zentrum besuchen. 20 Stockwerke, sieben Türme, inspiriert durch den siebenarmigen Leuchter, die die Goldene-Rose-Synagoge schützend umfassen: Nicht in Lwiw, nicht in Odessa, sondern in Dnipro steht das größte jüdische Kultur- und Geschäftszentrum der Welt mit Banken, Hotel und Hummus-Bar, mit einem Museum für Jüdische Geschichte und Holocaust in der Ukraine, mit dem Supermarkt "Kosher Deluxe" und einer Filiale von David Roytmans erlesenen "Luxury Judaica". Derzeit sind die marmornen Gänge eher leer, der Krieg hat auch die jüdische Gemeinde erfasst. Und doch ist der Komplex der stolze Ausdruck einer Wiedergeburt jüdischen Lebens an einem Ort, der ähnlich furchtbar, aber weit weniger bekannt für die Schrecken des Holocaust ist als Babyn Jar.

Allein an zwei Tagen im Oktober 1941 erschossen das deutsche Polizeibataillon 314 und ukrainische Hilfspolizisten unter Leitung der SS 12 000 Menschen. Im Oktober 1941 meldete die Wehrmacht, die "Judenfrage" sei im Grunde "gelöst". Es war die Vernichtung einer jüdischen Gemeinschaft, die zu den größten auf dem Boden der heutigen Ukraine gehörte. 1926 war ein Drittel der Bevölkerung jüdisch, 1913 gab es mehr als 80 Betstuben und Synagogen in der Stadt. Dabei hatte Dnipro, das von Katharina der Großen als Jekaterinoslaw gegründet wurde, das von 1926 bis 2016 - für westliche Zungen unaussprechlich - Dnipropetrowsk hieß, davor und danach auch unter sowjetischer Herrschaft Antisemitismus und Vertreibung erlebt.

Umso glanzvoller ist nun der Wiederaufstieg - auch wenn zu den Finanziers des Menora-Zentrums der höchst umstrittene Milliardär Ihor Kolomojskyj gehört. Kolomojskyj besitzt einflussreiche Fernsehsender, gilt als Königsmacher von Präsident Wolodimir Selenskij und steht unter dringendem Korruptionsverdacht. Selenskij ist längst auf Distanz zu seinem einstigen Förderer gegangen, und was auch immer mit Kolomojskyj geschieht - die jüdische Gemeinde wird auch dies überstehen. Sonja Zekri

Essay: "The Problem of Nature Writing"

Der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen im Landschaftszimmer im Theater Lübeck. (Foto: Marcus Brandt/dpa)

Ein paar Jahrzehnte war das Nature Writing als unironisch-naive Schwärmerei gründlich außer Mode, aber seit der Klimawandel sein akutes Stadium erreicht hat, zieht die Produktion von Eduard-Mörike-haften Natur-Apotheosen wieder spürbar an. Das Muster - zu finden beispielsweise bei J. A. Baker, Robert Macfarlane und Esther Kinsky - sieht in der Regel so aus: Ein zivilisationsmüder Erzähler begibt sich in eine unberührte Landschaft und betrachtet dort so lange, detailliert und aufmerksamkeitshell Wurzeln, Falken und Sedimentschichten, bis er gewissermaßen eins mit ihnen wird. Die Beliebtheit dieser Form verhält sich dabei umgekehrt proportional zum Zustand der Natur selbst: Je weniger unberührte Gegenden es auf dem Planeten gibt, desto mehr gibt es in den Verlagsprogrammen.

Der berühmte Vogelbeobachter Jonathan Franzen hat nun in einem lesenswerten Vorwort für eine amerikanischen Anthologie von Erzählungen über Vögel, das außerdem im New Yorker erschienen ist, einige Einwände gegen diesen Zweig des Nature Writing angemeldet. Erstes Problem, laut Franzen: Die langen, detaillierten Landschaftsbeschreibungen sind leider unerträglich. Oder jedenfalls nicht besser, als die Natur einfach selbst zu betrachten. Seit der Ankunft der Farbfotografie und der Tonaufnahme seien lange Beschreibungen in allen Textgattungen problematisch, schreibt Franzen, vor allem aber für einen Nature Writer, dessen Ziel es ist, bei seinem Publikum dieselbe Naturbegeisterung zu entfachen, die er selbst empfindet.

Denn, zweites Problem: Begeisterung werde stets über persönliche Beziehungen hergestellt. Seine Erfahrungen mit Vogelenthusiasten zeigten, dass 90 Prozent von ihnen ihre Leidenschaft von einem anderen Vogelenthusiasten empfangen haben, zu dem sie eine enge persönliche Beziehung unterhielten: einem Vater, einer Freundin, einem Lehrer. Um also Leser zu erreichen, "die in ihrem Menschsein vollkommen eingeschlossen sind" und für die Welt der Natur unempfänglich, reiche es deshalb nicht aus, einfach seine eigene Naturliebe darzustellen. Der Text müsse auch die Intensität menschlicher Beziehungen abbilden. Man könne einen Leser nicht dazu zwingen, sich für die Natur zu interessieren, so Franzen, "uns bleibt nur, starke Geschichten über Menschen zu erzählen, die sich für die Natur interessieren, und hoffen, dass dieses Interesse ansteckend ist". Felix Stephan

Klassik: Pietro Antonio Locatelli

Pietro Antonio Locatelli: Il virtuoso, il poeta. Violinkonzerte, Concerti Grossi. Isabelle Faust, Il Giardino Armonico (Giovanni Antonini). Harmonia Mundi 2023, 69 Minuten, 17,99 Euro. (Foto: Harmonia Mundi)

In der Phalanx der italienischen Geiger des 18. Jahrhunderts ragt Pietro Locatelli, 1695 in Bergamo geboren und 1764 in Amsterdam gestorben, als höchst origineller Virtuose heraus. Mit 34 Jahren zieht er sich vom Konzertleben zurück und musiziert nurmehr in Amsterdamer Privatzirkeln. Er sammelt eine Bibliothek mit musiktheoretischen Schriften, Naturwissenschaften, Literatur und Mathematik. Wahrscheinlich hat er in Rom noch Arcangelo Corelli kennengelernt. Locatellis Violinkonzerte gehören zur Pflicht jeder Ausbildung, seine 24 Capricci sind ebenso extrem wie die von Niccolò Paganini, er liebte die höchsten Höhen auf der Geige. Die Concerti grossi sind reich an Überraschungen und feiner Kantabilität. Isabelle Faust und Il Giardino Armonico unter Giovanni Antonini spielen so hinreißend schön und geistreich, dass man süchtig wird nach seiner Musik. Harald Eggebrecht

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