Endloses Wachstum:"Aus verantwortungsethischer Sicht wäre es geboten, sich wachstumsunabhängiger zu machen"

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Das Streben nach Wachstum hat für viele Menschen aber ja tatsächlichen Wohlstand gebracht. Darf man das außer Acht lassen?

Dank des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahrzehnte ist es vielen Menschen viel besser ergangen, als es sich die vorangegangen Generationen je hätten vorstellen können. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern gerade in den vergangenen 30 Jahren auch global. Noch nie ging es so vielen Menschen materiell so gut wie heute - in absoluten wie in relativen Zahlen. Wenn das Wachstum aber immer wieder stolpert, wenn das Wachstum dramatische negative ökologische und in der Zwischenzeit auch soziale Nebenfolgen hat, dann bringt der Verweis auf die angenehmen Erfahrungen der Vergangenheit nichts mehr. Wandel ist dann notwendig: im Denken, im Handeln.

Muss ein privates Unternehmen oder ein Staat zwangsläufig immer expandieren und größer werden?

Bei Unternehmen kommt es drauf an, was sie für Unternehmen sind und in welchem Umfeld sie agieren. Sicherlich braucht ein Start-up eine Wachstumsphase, damit es sich stabilisieren kann. Ein etablierter Handwerksbetrieb hat vermutlich keine Wachstumsstrategie und braucht sie auch nicht. Auch viele Mittelständler haben keine klar formulierte Wachstumsstrategie. Wachstum ist da eher etwas, das passiert, weil man erfolgreich ist. Und Unternehmen schrumpfen manchmal auch, weil der Markt schrumpft, auf dem man tätig ist. Die Wachstumserzählung ist vor allem eine der Großunternehmen. Was den Staat angeht, so sehen wir ja eher die Sorge um eine zu große Staatstätigkeit und zu große Verschuldung. Da scheint das Ende des Wachstums eher auf Akzeptanz zu stoßen, auch wenn selbstverständlich die Haushalte der Nationen weiter wachsen. Die Zwangsläufigkeit entsteht erst dann, wenn das Wachstumsdenken unhinterfragt als Grundannahme bei jeder Entscheidung mitläuft. Sich davon frei zu machen ist eine große Herausforderung, vermutlich die entscheidende Herausforderung für die Wohlstandsgesellschaften im 21. Jahrhundert.

Das klingt fast nach einem quasi-religiösen Glaube.

Das ist auch so. Das Wirtschaftswachstum ist die unhinterfragte Conditio-sine-qua-non-Formel. Wie Angela Merkel es vor 15 Jahren einmal ausdrückte: Ohne Wachstum ist alles nichts. Das hat natürlich nichts damit zu tun, dass eine Wirtschaft ohne Wachstum nicht auch funktionieren kann, sondern viel eher damit, dass wir uns in den vergangenen Jahrzehnten so an das Wachstum gewöhnt haben, dass wir uns eine andere Welt nicht mehr vorstellen können. Die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung und die mediale Berichtserstattung über Wirtschaft haben ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle dabei gespielt, dass "Wachstum über alles" gilt.

Haben wir uns vom Wachstum zu abhängig gemacht?

Was unsere mentale Flexibilität angeht, sicherlich. Wir müssen uns nur anschauen, wie unsere sozialen Sicherungssysteme finanziert werden - nämlich durch Abgaben auf auch in Zukunft steigende Einkommen. Hier wäre ein Umsteuern angeraten, um zumindest die Staatsfinanzen etwas wachstumsunabhängiger zu machen. Steuern auf Vermögen und auf Umweltverbräuche sind hier die bessere Wahl als Steuern auf Arbeitseinkommen.

Wo liegen die Grenzen des Wachstums?

Ökonomisch sind wir seit der Wirtschaftskrise von 2008, immerhin der größten seit 1929, in anderen Wachstumszeiten. Die Weltwirtschaft wächst nicht mehr mit demselben Potenzial wie vor der Krise, und die Gefahr von ähnlichen Krisen in der Zukunft steigt. Allein schon aus verantwortungsethischer Sicht wäre es geboten, sich wachstumsunabhängiger zu machen. Das heißt nicht, dass man nicht weiterhin versuchen sollte, das Wachstum, das wir haben, zu begrünen und umweltverträglicher zu machen. Allein darauf zu setzen, dass es schon gelingen wird, Wachstum und Umwelt miteinander zu versöhnen, erscheint mir aber zu naiv und zu riskant.

Wie entkommen wir einer Welt, die sich dem Konzept derart verschrieben hat?

Der einfachste Weg ist ein dauerhaftes Ausbleiben von Wachstum aufgrund ökologischer und ökonomischer Begrenzungen - siehe Klimawandel, die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Also durch Krisen. Das ist kein angenehmer Weg, aber aus der Geschichte wissen wir, dass große gesellschaftliche Veränderungen meist durch Krisen ausgelöst werden. Der schwierigere Weg ist durch eine behutsame Entkopplung von Lebensqualität und Wachstum, durch einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme in Richtung weniger Wachstumsabhängigkeit und, schlimmes Wort, einen Wertewandel, bei dem Wachstum nicht mehr wirtschaftlich gedacht wird, sondern einen Zuwachs an Wissen, Erfahrung, Freude, Freundschaft, Zufriedenheit bedeutet.

Wäre Postwachstum, das Verringern von Konsum und Produktion, eine Alternative zum derzeitigen System?

Mit der Postwachstumsökonomie gibt es einen ganzen Strauß an Konzepten, wie so eine neue Welt jenseits alter Wachstumszwänge aussehen kann. Da sind sicherlich keine Patentrezepte für alle unsere Probleme dabei, aber einige Grundüberzeugungen weisen in die richtige Richtung: nicht alles dem Markt oder dem Staat überlassen, sondern den dritten Sektor, die Zivilgesellschaft stärken; lokale Wirtschaftskreisläufe ermöglichen; Steuern auf sozial und ökologisch schädliches Verhalten erhöhen und auf erwünschtes Verhalten senken; alternative Berechnungsformen des Wohlstands in Staat und Wirtschaft einführen; soziale Sicherungssysteme vom Wachstum unabhängiger machen durch Umsteuern von Besteuerung auf Arbeitseinkommen in Richtung Vermögen und Umweltverbräuche; und ganz wichtig: nicht automatisch nach mehr Markt oder mehr Staat rufen, sondern die Menschen und ihre Gemeinschaften in den Vordergrund stellen.

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