Ungleichheit in Deutschland:Wie sich Ungleichheit bekämpfen lässt

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Umverteilung und Chancengleichheit - auch für Kinder aus ärmeren Familien (Foto: dpa)

Ungleiche Verhältnisse lassen sich nicht einfach dadurch beseitigen, dass der Staat Geld umverteilt. Er muss auch für faire Chancen sorgen.

Von Alexander Hagelüken

Ungleichheit, so formuliert es US-Präsident Barack Obama, ist "die entscheidende Herausforderung unserer Zeit". Wie in anderen Industriestaaten haben auch in der Bundesrepublik die Unterschiede zwischen den Reichen und den anderen zugenommen. Der Graben klafft wieder so weit auseinander wie Anfang der Sechzigerjahre. Also bevor vor einem halben Jahrhundert Wirtschaftswunder und Wohlfahrtsstaat für mehr Gleichheit der Bundesbürger sorgten.

Kapital- und Unternehmereinkommen legten stark zu. Geringverdiener und viele aus der Mittelschicht dagegen stagnieren oder haben sogar weniger Einkommen als vor der Jahrtausendwende. Das Vermögen ist in Deutschland so ungleich verteilt wie nirgends sonst in der Euro-Zone - das nimmt jenen Freiheit, die wenig haben.

Stagnation und Ungleichheit gehören zu den Ursachen dafür, warum überall im Westen Populisten im Aufwind sind, von der AfD über den Front National bis zu den Anhängern des Brexit. Vor einiger Zeit wäre es undenkbar gewesen, dass eine Figur wie Donald Trump Chancen auf die Nachfolge von Obama hat. Die Populisten agitieren aber nicht nur gegen Fremde und Flüchtlinge. Sie bedrohen das Globalisierungsmodell offener Märkte und offener Grenzen, das den Industrieländern unter dem Strich enormen Wohlstand einbringt.

Populisten bedrohen das Wachstum, das sonst verteilt werden könnte

Um gegen die Populisten anzugehen und die Globalisierung zu retten, gilt es, Obamas Forderung ernst zu nehmen - und die Ungleichheit wieder zu verringern. Dazu müssten sich die etablierten Parteien von ihrem formelhaften Lob der Globalisierung lösen und anerkennen, dass die Internationalisierung der Wirtschaft auch Verlierer produziert. Wenn es ihnen gelingt, die weniger verdienende Hälfte der Bevölkerung mehr vom Wachstum profitieren zu lassen als bisher, erschweren sie den Populisten das trübe Geschäft.

Bremsen oder stoppen dagegen die Populisten die Globalisierung, bedrohen sie genau jenes Wachstum, das sich zur größeren Zufriedenheit der weniger verdienenden Hälfte besser verteilen ließe. Eine Abwärtsspirale, die am Ende alle Gruppen der Bevölkerung zu Verlierern macht.

Doch bei der Frage, wie genau sich stagnierende Einkommen erhöhen lassen, zeigen sich die Gesellschaften im Westen tief uneinig. Das gilt auch für Deutschland. Liberal-Konservative setzen in erster Linie auf mehr Chancengerechtigkeit. Benachteiligte sollen durch bessere Startchancen ihr Glück machen. Die Ergebnisse des Marktes dagegen sind möglichst nicht anzutasten. "Eine Ungleichheit der Einkommen", sagt Harvard-Ökonom Martin Feldstein, "ist kein Problem, das man beheben müsste." Das linke Lager dagegen versteift sich meist auf Umverteilung von oben nach unten. Untere Einkommen sollen in erster Linie durch Sozialleistungen steigen.

Beide Seiten stehen sich mit einer gewissen Unversöhnlichkeit gegenüber. Sie blockieren damit eine gemeinsame Strategie für mehr gesellschaftlichen Ausgleich, die gerade jetzt gebraucht würde. Das ist umso ärgerlicher, als beide Seiten falsch liegen. Wer einseitig nur auf mehr Chancengerechtigkeit oder mehr Umverteilung setzt, wird daran scheitern, die westlichen Gesellschaften wieder fairer zu machen - und die Unzufriedenheit zu reduzieren.

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Schmaler Grat für den umverteilenden Staat

Die Verfechter der Chancengleichheit argumentieren gern mit den Grenzen der Umverteilung, die rasch die Antriebskräfte der Marktwirtschaft schwäche. Damit haben sie einen Punkt. Wie viel darf der Staat einem Erfinder oder Firmengründer wegsteuern, ohne ihm den Antrieb für all die Überstunden zu nehmen, die er in seinen durchaus ungewissen Erfolg steckt?

Der umverteilende Staat wandert auf einem schmalen Grat. Manchmal stürzt er damit ab, mit negativen Folgen für das Wachstum. Wie in den Siebzigerjahren. Die Bestsellerautorin Astrid Lindgren rechnete vor, dass der schwedische Staat ihr 1975 mehr als 100 Prozent ihrer Einnahmen abnahm. Sie verfasste das sarkastische Märchen "Prinzessin Pomperipossa in Monismanien". Die regierenden Sozialdemokraten sollen auch wegen dieses Werks die nächste Wahl verloren haben. Zu viel Umverteilung ist zu viel.

Wer auf die Grenzen der Umverteilung pocht, für den liegt es nahe, vor allem auf mehr Chancengerechtigkeit zu setzen. Der Politik kommt dann die Aufgabe zu, möglichst gleiche Startchancen zu schaffen. Gute Schulen auch in schlechten Vierteln. Studienkredite für Kinder ärmerer Eltern. Der Charme der Chancengerechtigkeit besteht darin, dass sie den Bürger selbst in die Lage versetzt, sein Einkommen zu steigern. Das ist nachhaltiger als Sozialleistungen, die abhängig machen können. Die potenziellen Effekte der Strategie sind gewaltig: Wer ein Unidiplom erringt, hat ein Arbeitslosigkeitsrisiko von zwei Prozent. Ohne Berufsabschluss sind es 20 Prozent.

Wer sich die Realität betrachtet, erkennt allerdings die Grenzen dieser Strategie. Vor einem halben Jahrhundert warnte Professor Georg Picht vor einer Bildungskatastrophe in Deutschland, weil unter anderem für benachteiligte Kinder zu wenig getan werde. Seitdem hat sich viel getan, aber nicht genug. Ein halbes Jahrhundert nach Picht studieren drei Viertel aller Akademikerkinder und nur ein Viertel der Arbeiterkinder. "Der Bildungserfolg bleibt weiterhin stark von der sozialen Herkunft abhängig", diagnostizieren die Forscher im Chancenspiegel der Bertelsmann-Stiftung.

Der Soziologe Pierre Bourdieu urteilte einst, das Bildungssystem reproduziere im Wesentlichen nur die sozialen Hierarchien, statt sie aufzulockern. Er nannte seine Abhandlung "Die Illusion der Chancengleichheit". So skeptisch muss man es nicht sehen, um zuzugestehen, dass es eine Illusion wäre, nur auf mehr Chancengerechtigkeit zu setzen. Es wird nie gelingen, annähernd gleiche Chancen herzustellen.

Das liegt an Glück und Pech, an den vielen unterschiedlichen Einflussfaktoren der Herkunft, die neuere Studien betonen - und an der Macht der Etablierten. Deutsche Bildungsbürger wehren sich erbittert dagegen, Kinder später als nach der vierten Klasse auf Gymnasium und andere Schulformen aufzuteilen. Dabei halten Forscher die besonders frühe Aufteilung für einen wichtigen Grund, warum Aufstieg durch Bildung bei uns seltener gelingt als in anderen Industrienationen.

Die richtige Antwort auf die vergrößerte Ungleichheit ist also, das Erste zu tun, ohne das Zweite zu lassen. Es gilt, energisch in mehr Chancengerechtigkeit zu investieren - und zugleich klug umzuverteilen. Es wäre in der Bundesrepublik durchaus möglich, für mehr Ausgleich zwischen den Reichen und den anderen zu sorgen, ohne die Antriebskräfte der Marktwirtschaft übermäßig zu schwächen. Seit fehlgeleitete Linke Astrid Lindgren 1975 mehr als hundert Prozent ihres Einkommens wegsteuerten, sind die westlichen Staaten ins andere Extrem verfallen. Der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher entfesselte Liberalismus hat die Gewichte zu weit zu Reichen und Firmen verschoben.

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Wer wenig verdient muss entlastet werden, um Vermögen aufzubauen

Mittel- und Geringverdiener werden in Deutschland über Gebühr belastet. Weil ab dem ersten Euro voll Sozialabgaben abgehen, bleibt der stark gewachsenen Zahl der Niedriglöhner zu wenig übrig. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent greift schon bei Mittelschichtlern zu, die knapp 5000 Euro verdienen und damit weniger als das Doppelte des Durchschnitts - vor 50 Jahren war das erst beim 18-Fachen der Fall gewesen.

Dagegen werden Vermögende schamlos privilegiert. Millionäre müssen ihre Kapitalerträge nur mit 25 Prozent versteuern. Und Familienunternehmer haben gerade durchgesetzt, dass sie ihre Firmen auch künftig weitgehend steuerfrei vererben dürfen. Alle Erbschaften in Deutschland zusammen belaufen sich auf 200 bis 300 Milliarden Euro im Jahr, von denen eine Minderheit profitiert - derzeit de facto versteuert mit zwei Prozent.

Wer die Ungleichheit ernsthaft bekämpfen will, muss Vermögende und Firmen gezielt belasten und Schlupflöcher schließen. Er muss überkommene Vergünstigungen wie das Ehegattensplitting streichen, das die Frau am Herd fördert. Und mit diesen Einnahmen muss er geringe und mittlere Einkommen drastisch entlasten - und ihnen helfen, mehr Vermögen zu bilden.

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Für die Linken wäre diese Strategie ein neuer Weg

Das wäre keine Umverteilung im alten Stil. Es wäre keine pauschale Erhöhung von Sozialleistungen, die abhängig machen, wenn sie von der Aufnahme einer Arbeit abhalten. Es würde vielen Gering- und Mittelverdienern das Gefühl vermitteln, dass sich ihre Leistung lohnt, auch wenn die Zeiten mit der Globalisierung rauer geworden sind. Deutschland hatte zuletzt in manchen Jahren fast ein Fünftel Niedriglöhner. Solche Anteile erreichen in Europa sonst nur Staaten, die ein halbes Jahrhundert hinter dem Eisernen Vorhang weggesperrt waren.

Für die traditionellen Freunde der Umverteilung auf der Linken wäre diese Strategie ein neuer Weg. Sie müssten anerkennen, dass die Ungleichheit nicht dauerhaft zu reduzieren ist, wenn der Staat einfach nur Geld verteilt. Sondern dass es mehr Erfolg verspricht, wenn er Arbeit attraktiver macht - und er jenen mehr netto auf dem Konto beschert, die keine automatischen Gewinner der Globalisierung sind.

Die Alternative ist schlechter: Wenn Linke wie Konservative so weiterwursteln wie bisher, erleichtern sie den Populisten das Geschäft.

© SZ vom 01.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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