Von Luther bis zum Fall der Mauer:Warum der Kapitalismus überlebt hat - trotz allem

Kapitalismus-Recherche

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(Foto: Illustration: Jessy Asmus / SZ.de)

Wo der Kapitalismus seine Wurzeln hat, warum es ihn trotz aller Krisen und Kritik immer noch gibt und was das mit der Erfindung der Uhr zu tun hat - eine kleine Geschichte des Kapitalismus.

Von Nikolaus Piper

Wann hat der Kapitalismus begonnen? Die Frage ist schwer zu beantworten, schon deshalb, weil man lange darüber streiten kann, was unter Kapitalismus zu verstehen ist. Der nationalkonservative Ökonom Werner Sombart, der den Begriff in Deutschland populär gemacht hat, lässt den Kapitalismus mit dem Auftreten der ersten Unternehmer im 13. und 14. Jahrhundert beginnen. Karl Marx vermeidet den Begriff, unterscheidet aber zwischen einfacher und kapitalistischer Warenproduktion. In der ersten verkauft ein Produzent, etwa ein Bäcker, seine Ware, um von einem anderen Produzenten, etwa einem Metzger, dessen Ware zu erwerben. In der kapitalistischen Version dagegen handelt ein Geldbesitzer mit Waren, um noch mehr Geld zu besitzen. "Die Bewegung des Kapitals ist also maßlos", schreibt Marx im "Kapital". Anders ausgedrückt: Marx bindet den Kapitalismus an das Wirtschaftswachstum.

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Auf jeden Fall lassen sich die Wurzeln dessen, was man heute als Kapitalismus bezeichnet, auf drei Ereignisse zurückführen, die Europas Wirtschaft auf ihren spektakulären Sonderweg geführt haben. Erstens die Gründung des ersten Benediktinerklosters auf dem Monte Cassino bei Neapel um 530. Abt Benedikt von Nursa machte Schluss mit der Verachtung der Arbeit, wie sie in den antiken Sklavenhaltergesellschaften üblich war, er schuf einen Ethos der Arbeit und der Arbeitsdisziplin. Zweitens die Erfindung der doppelten Buchführung 1494 durch den Genueser Mönch Luca Pacioli, die eine rationale Unternehmensführung möglich machte. Und drittens die Erfindung der mechanischen Uhr, die die Zeit der Herrschaft der Priester entzog und sie demokratisierte. Dazu kam das Entstehen eines selbstbewussten Bürgertums in den oberitalienischen Städten, in den deutschen Freien Reichsstädten, in den Niederlanden und später in England. Diese Elemente - Arbeitsethos, Rationalität, Demokratisierung der Zeit und Entstehung einer Mittelschicht waren entscheidend für den Kapitalismus. Alles andere kam danach: die ersten Aktiengesellschaften, die Erfindung der Dampfmaschine, die ersten Fabriken.

Der Kapitalismus schuf ungeheuren Wohlstand und riesige soziale Unterschiede, er brachte Glück und existenzielle Krisen, er produzierte Katastrophen und gleichzeitig die Mittel, um diese zu vermeiden. Wegen all seiner Widersprüche wurde das Wachstum des Kapitalismus fast von Beginn an immer wieder von Wellen des Unbehagens und des Protests begleitet. Mit Krisen mussten die Menschen zwar seit Urzeiten leben. Aber früher hatten die Krisen Ursachen, die jeder benennen konnte - Kriege etwa oder Naturkatastrophen. In der kapitalistischen Wirtschaft dagegen schienen es anonyme Mächte sein, die den Zusammenbruch von Unternehmen und ganzen Volkswirtschaft auslösten. Schon Martin Luther wetterte gegen die Handelsgesellschaft seiner Zeit. "Soll Recht und Redlichkeit bleiben, so müssen die Gesellschaften untergehen", schrieb er. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in den USA und in Europa die moderne Arbeiterbewegung als Protest gegen die Zustände in den Fabriken des Frühkapitalismus. Nach Streiks und Demonstrationen in Chicago im Mai 1886 riefen Sozialisten den 1. Mai zum "Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse" aus, was er für viele bis heute ist.

In den 1930er Jahren schien der Kapitalismus am Ende zu sein

Die schwerste Krise erlebte der Kapitalismus jedoch nach dem großen Börsenkrach von 1929. Er stürzte die großen Industrieländer - allen voran die USA und Deutschland - in Not und Massenarbeitslosigkeit, er ermöglichte den Sieg von Hitlers NSDAP. Es schien, als hätte der Kapitalismus wirklich ausgedient. Während die Verzweiflung im Westen wuchs, überraschte Stalins Sowjetunion die Welt mit immer neuen Wachstumsrekorden. In Deutschland beseitigten die Nationalsozialisten die Arbeitslosigkeit binnen kurzer Zeit und zum Schrecken der Briten und Franzosen. Alle Debatten, die heute über die Zukunft des Kapitalismus gehalten werden, sind letztlich nur vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise zu verstehen, bei Gegnern ebenso wie bei Anhänger des Kapitalismus. Viele glaubten damals aus voller Überzeugung, dass der Kapitalismus am Ende sei. Die "New Dealer", also die Anhänger von Präsident Franklin D. Roosevelts "New Deal", wollten umfassende Wirtschaftsplanung. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 hieß es: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden."

Dass der Kapitalismus trotzdem überlebt hat, ist im wesentlichen drei Männern zu danken: John Maynard Keynes (1883-1946), der britische Ökonom, entwickelte Methoden, mit denen der Staat Wirtschaftskrisen effektiv bekämpfen kann. Der amerikanische George Marshall (1880-1959) überzeugte als Außenminister seine Regierung 1947, dem kriegszerstörten Europa, einschließlich Deutschlands, großzügig zu helfen. Der erste westdeutsche Wirtschaftsminister und zweite Bundeskanzler Ludwig Erhard (1897-1977) schließlich setzte nach 1948 gegen heftigen Widerstand der Alliierten und der eigenen Bürger die Soziale Marktwirtschaft in der jungen Bundesrepublik durch. Deutschland wurde im Kalten Krieg dank Erhard zum Schauplatz eines einmaligen historischen Experiments: Der Westen probierte es mit Kapitalismus, der Osten (notgedrungen) mit Sozialismus. Das Ergebnis war so durchschlagend, dass die Sympathien für den Sozialismus in Westeuropa erst einmal verflogen waren. Deutschland erlebte das Wirtschaftswunder, Westeuropa insgesamt zwei goldene Jahrzehnte. Die Wirtschafts wuchs mit fantastischen Raten, der Sozialstaat wurde immer weiter ausgebaut. Es war ein wohl organisierter, ein sozialer Kapitalismus.

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Inbegriff des Kapitalismus: Die Wall Street, in der die New Yorker Börse zu Hause ist. Das Bild entstand in der Zeit der großen Finanzkrise 1929.

(Foto: AFP)

Die guten Zeiten endeten abrupt am 6. Oktober 1973. An diesem Tag griffen die Armeen Ägyptens und Syriens Israel an. Wenig später drosselte die Organisation Erdöl exportierender Staaten ihre Produktion und erhöhte den Preis für ein Fass Rohöl von drei auf fünf Dollar. Auf den folgenden Ölschock waren die Volkswirtschaften nicht vorbereitet. Sie waren in den vielen guten Jahren starr geworden, gesellschaftliche Gruppen setzten rigoros ihre Ansprüche brachial durch. Die deutsche Gewerkschaft ÖTV, Vorgängerin von Verdi, erstreikte 1974, mitten in der Krise ein Lohnplus von elf Prozent. Auf den Ölschock folgte daher "Stagflation" also die Kombination von geringem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit und steigenden Preisen.

Konsequenterweise setzte in der Wirtschaft ein Paradigmenwechsel statt. Keynes und das soziale Denken wurden zurückgedrängt, stattdessen bekam die Idee des uneingeschränkten freien Marktes neue Anhänger. Es war kein Zufall, dass der Radikalliberale Friedrich A. von Hayek 1974 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde. Politisch wurde die Trendwende markiert durch den Amtsantritt der Konservativen Margaret Thatcher in London 1979, von Ronald Reagan in Washington 1981 und von Helmut Kohl in Bonn 1982.

Neue Dynamik und neue Angst mit Ende des Sozialismus

Und schließlich der 9. November 1989, der Tag an dem die Berliner Mauer fiel. Das sozialistische System, dessen Protagonisten sich einmal als große Alternative zum Kapitalismus gesehen hatten, implodierte binnen weniger Monate. Das "Ende der Geschichte" schien erreicht zu sein, wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama schrieb.

Natürlich war es nicht erreicht. Das Ende des Sozialismus setzte eine neue Dynamik des Kapitalismus in Gang, die vielen Menschen in den Industrieländern Angst machte. Mit dem Ende des Kalten Krieges trat plötzlich mehr als eine Milliarde Menschen, vor allem aus der Volksrepublik China, neu in die Weltwirtschaft. Das zerstörte Arbeitsplätze in den alten kapitalistischen Ländern und stellte Märkte auf den Kopf. Das war Stoff für eine neue antikapitalistische Bewegung, die jetzt unter dem Banner der Globalisierungskritik auftrat und eine "andere Weltwirtschaft" verlangte. Die Finanzkrise von 2008 und 2009, in der das globale Finanzsystem bedrohlich nahe an einer Wiederholung der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre war, schien den Kritikern recht zu geben

In einem der am schwersten getroffenen Krisenstaaten, Griechenland, wurden militante Antikapitalisten in die Regierung gewählt. Wohin sie ihr Land führen werden, weiß niemand.

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