Dokumentarfilmer Matthew Heineman:Mit Wahnsinn zur Wahrheit

Lesezeit: 4 Min.

"Wenn wir unserem Herzen folgen, haben wir schon verloren." Drogenköche im mexikanischen Wald. (Foto: DCM Filmverleih)

Für seine gespenstische Doku "Cartel Land" hat sich Matthew Heineman in höchste Lebensgefahr begeben. Dem Albtraum des mexikanischen Drogenkrieges kam er dadurch näher als je ein Filmemacher zuvor.

Von Paul Katzenberger

Die Szene, die am Anfang von Matthew Heinemans Doku "Cartel Land" steht, wirkt friedlich: Mitten in den Wäldern Mexikos stehen da ein paar Männer und kochen Crystal Meth, während sie über ihr Metier reden, ganz entspannt, ruhig, ja sogar vernünftig: "Wir wissen, welchen Schaden wir mit all diesen Drogen anrichten", sagt einer von ihnen. Die Fähigkeit zur Einsicht macht ihn fast schon vertrauenserweckend, obwohl er vermummt ist.

"Aber was sollen wir machen?", fährt er fort. "Wir sind arm. Wenn wir Geld hätten, wären wir wie ihr, würden um die Welt fahren und gute Jobs haben", sagt er, und es scheint, als richte er sich direkt an uns, die Zuschauer aus den reichen Abnehmerländern der Drogenproduzenten. "Aber wenn wir unseren Herzen folgen, haben wir schon verloren. Also werden wir das hier machen, solange es Gott erlaubt. Und jeden Tag werden wir mehr von diesem Zeug kochen, denn das hier wird es immer geben, habe ich recht?"

Er hat recht. Das, wovon er spricht, wird es immer geben. Und wer diese Erkenntnis sacken lässt, dem muss die Szene plötzlich ganz ungeheuerlich erscheinen. Mexikos Drogenkrieg zählt inzwischen 100 000 Tote und 20 000 Vermisste, und dass der Regisseur diese Leute mitten in der Nacht im Nirgendwo interviewt, ist mit Draufgängertum nur unzureichend beschrieben - es ist der glatte Wahnsinn. Würden er und seine Crew hier auf der Stelle erschossen und zerstückelt - die Chancen, dass ihre Überreste überhaupt je gefunden würden, wären gering.

Trailer, Cartel Land (Video: DCM)

Doch Matthew Heineman konnte offenbar einen Schutzengel engagieren - er ist während des Drehs von "Cartel Land" nicht nur aus dieser heiklen Lage heil herausgekommen, sondern auch aus etlichen weiteren Extremsituationen - mit teilweise barbarischen Szenen: blutüberströmte Leichen, die am Boden liegen; Gefolterte, die vor Schmerzen brüllen, hysterische Töchter, die um das Leben des Vaters betteln. Sogar mitten in eine Schießerei geriet der Regisseur.

Das mag ihn einige Nerven gekostet haben, doch nicht so viele, dass er je vergessen hätte, mit seiner agilen Handkamera direkt auf alles draufzuhalten, was ihm vor die Linse kam. Die Bilder, die er so einsammelte, führen uns den Alptraum des mexikanischen Drogenkrieges so direkt vor Augen wie kaum ein Film zuvor.

Die meisten Dokumentarfilmer behandeln das Thema vor allem aus Sicht der Opfer, alles andere ist zu gefährlich: Es gibt genug abgehackte Köpfe von Journalisten als Warnung an jene Kollegen, deren investigative Ambitionen auf das Drogengeschäft zielen.

Dass ausgerechnet Heineman, der noch nie zuvor in einem Krisengebiet war, den Gefahren trotzte, lag zunächst an einem Zufall, durch den er einen neuen Zugang zu dem Stoff fand.

Eigentlich begann das Projekt für ihn ganz harmlos, fast so unspektakulär wie die Doku "Escape Fire" über das amerikanische Gesundheitswesen, mit der er 2014 für einen Emmy nominiert war: "Cartel Land" sollte von einer Bürgerwehr in Arizona handeln - einer kleinen Gruppe freiwilliger Grenzschützer unter der Führung des verlebten Ex-Junkies Tim Foley, die an der Grenze zu Mexiko Flüchtlinge und Drogenkuriere jagen. Bis ihm sein Vater einen Zeitungsausschnitt über die Selbstverteidigungs-Miliz "Autodefensas" im mexikanischen Bundesstaat Michoacán zuschickte. "Als ich das las, wusste ich sofort, dass ich eine Parallelgeschichte über Bürgerwehren auf beiden Seiten der Grenze erzählen wollte."

Es ist eine Schwäche des Films, dass Heineman dieses Vorhaben bis zum Schluss durchhielt. Es wäre besser gewesen, wenn er seine Pläne noch entschiedener umgeworfen und sich allein auf die Autodefensas beschränkt hätte. Nicht nur weil allein das hohe Risiko, das er persönlich einging, diese Fokussierung verdient gehabt hätte. Sondern auch, weil seine Aufnahmen aus Mexiko völlig neue Einblicke in die Strukturen dieses Krieges gestatten. Die Szenen von Foleys Patrouillen mit seiner Handvoll Rednecks, die der Film nun noch enthält, wirken im Vergleich mit dem monumentalen Kampf Tausender Autodefensas gegen das übermächtige Templer-Kartell geradezu lachhaft.

Ein faszinierender Film ist "Cartel Land" dennoch. Allein das Portät des schillernden Gründers der mexikanischen Miliz José Mireles ist eine mitreißende Studie über den Aufstieg und Fall einer charismatischen Führungsfigur. Der Arzt hatte eines Tages genug davon, dass die Templer die gesamte Zivilgesellschaft terrorisierten und die Regierungssoldaten einfach nur tatenlos zusahen, während sich die Politiker auf das Schütteln von Händen beschränken. Mit Gleichgesinnten gründete er die Autodefensas und nahm den Kampf selbst in die Hand.

Allein die Betroffenen sollen zu Wort kommen

Heineman zeigt, wie dadurch plötzlich ungeheuer viel in Bewegung kommt, kommentiert aber nichts. Allein die Betroffenen sollen zu Wort kommen. Fragen, die auf Erklärungen oder Lösungsansätze abzielen, bügelt er konsequent ab: "Das hier ist kein Film, der Strategien aufzeigen soll, und ich habe niemals den Eindruck erweckt, dass ich das leisten kann."

In Amerika ist ihm das als Mangel an politisch korrekter Haltung ausgelegt worden. "Die Toten werden zum einzigen Argument", schrieb die New York Times. Der Regisseur beziehe keine Position zur Selbstjustiz, zur Politik der USA und Mexikos im Drogenkrieg.

Dem Zuschauer bleibt allein die Chronologie des Geschehens, an der sich aber sehr gut ablesen lässt, warum sich Heineman zu Recht Patentrezepten verweigert: Anfangs erobern die Autodefensas Dorf um Dorf zurück. Die Selbstjustiz im Dienst der guten Sache scheint zu funktionieren. Doch dann wird Mereles bei einem Unfall schwer verletzt und die Kontrolle über seine Organisation entgleitet ihm. Seine Subcommandantes vertreten ihn - und lassen sich durch die neue Macht korrumpieren. Sie übernehmen die Mittel der Feinde: Sie plündern, foltern und töten. Schließlich lassen sie sich auf einen Pakt mit dem Staat ein und ordnen sich den korrupten Behörden unter, die sie zuvor bekämpft haben.

Der Film endet da, wo er begonnen hat - bei den dampfenden Meth-Bottichen im mexikanischen Wald: "Der Staat, die Kartelle, die Bürgerwehren - am Schluss sind sie alle eins", erklärt der maskierte Drogenkoch mit dem halbautomatischen Gewehr im Anschlag. Es ist ein Fazit, das keine Fragen und Antworten zulässt.

Cartel Land, Mexiko, USA, 2015 - Regie: Matthew Heineman, Produzentin: Kathryn Bigelow. DCM Filmverleih, 100 Minuten. Seit 30. Oktober 2015 auf DVD erhältlich.

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