Nach Anschlagsserie in Waldkraiburg:Die Spuren in den Köpfen

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In einer Aprilnacht vor einem Jahr brannte der Gemüseladen von Hüsey Alus aus. Weil dieser einen türkischen Namen hat. (Foto: dpa)

Ein selbsternannter IS-Kämpfer hat im vergangenen Frühjahr mehrere Anschläge auf Geschäfte türkischstämmiger Inhaber verübt. Nun kommt er vor Gericht. Am Tatort geht das Leben weiter - aber mit Unbehagen.

Von Matthias Köpf, Waldkraiburg

Der schwerste Anschlag hat das Herz der Stadt getroffen, schon rein räumlich. Der Sartrouville-Platz, benannt nach der französischen Partnerstadt, liegt direkt am Rathaus. Hier an dem schmucklosen Wohnkomplex sind die Spuren der Anschlagsserie noch zu sehen, die im vergangenen Frühjahr die Menschen im oberbayerischen Waldkraiburg erschüttert hat. Die Decke am Durchgang ist immer noch schwarz vom Rauch, und vor dem Haus ist das geschmolzene Glas der Straßenlampe zu etwas erstarrt, das eine dicke, trübe Träne sein könnte. Auch an drei anderen Orten in der Stadt waren Scheiben zu Bruch gegangen im April und Mai 2020. In der kleinen Pizzeria drüben am Annabergplatz zum Beispiel oder in dem Dönerladen weiter im Süden bei den Schulen. Hier sind keine Spuren der Anschläge mehr zu sehen. "Die Spuren sind halt in den Köpfen", sagt Ahmet Baskent.

Der mutmaßliche Täter ist zufällig aufgeflogen. Beim Schwarzfahren im Zug

Baskent ist der Vorsitzende des Moscheevereins in Waldkraiburg. Es ist eine Ditib-Gemeinde, aus der Ferne unterstützt vom türkischen Staat. Genau auf den und auf die türkischstämmigen Deutschen hatte Muharrem D., der sich für die Anschlagsserie von Dienstag an in einem Terrorprozess vor dem Oberlandesgericht München verantworten muss, offenbar seinen Hass gerichtet. Der Generalbundesanwalt wirft dem inzwischen 26 Jahre alten Deutschen mit türkisch-kurdischen Wurzeln versuchten Mord in 31 Fällen vor, dazu schwere Brandstiftung und die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Denn wäre er nicht am 8. Mai ohne Ticket in einer Regionalbahn erwischt worden, dann hätte der selbst erklärte IS-Kämpfer D. den Attentaten von Waldkraiburg im Namen des sogenannten Islamischen Staats womöglich noch eine ganze Reihe anderer Anschläge folgen lassen.

So hat D. es später selbst ausgesagt, nachdem ihn Bundespolizisten am Mühldorfer Bahnhof empfangen hatten und auf sein Gepäck aufmerksam geworden waren. Ob er es am Bahnsteig lassen könne, es sei so schwer, soll D. damals gefragt haben. Es waren schließlich zehn Rohrbomben und einiger Sprengstoff darin. 13 weitere Rohrbomben und viele Kilogramm bombenfähiger Chemikalien fanden sich in einem Auto in einer Tiefgarage in dem kleinen Ort Garching an der Alz, wo D. aufgewachsen ist und wo er an jenem Tag mit seinen zehn Rohrbomben, aber ohne Fahrkarte in den Zug gestiegen war. Auf Ditib-Moscheen unter anderem in München und Köln hatte es D. laut seiner eigenen Aussage mit den Rohrbomben noch abgesehen. Auch die Imame habe er erschießen wollen. Eine Beretta Kaliber 7.65 plus Patronen fanden die Polizisten kurz darauf in der Wohnung in Waldkraiburg, in die D. wenige Monate zuvor gezogen war.

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Dem 25-Jährigen wird schwere Brandstiftung und die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat vorgeworfen. Der Mann besaß eine Waffe, 23 Rohrbomben und mehr als 45 Kilogramm Sprengstoff.

Hier war dieser D. ein Unbekannter. Bis heute findet sich keiner, der ihn gekannt haben will, auch nicht über eine oder zwei Ecken. Genau so geht es den Menschen im Moscheeverein. Unter den 300 Mitgliedern seien die Anschläge in den vergangenen Monaten kein großes Thema mehr gewesen, sagt Ahmed Baskent. Aber immer wenn irgendwo eine Sirene gehe, wenn die Feuerwehr oder die Polizei mit Blaulicht und Martinshorn zu einem Einsatz unterwegs sind, dann sei das alles wieder da.

Es ist die Erinnerung an den Großeinsatz in der Nacht zum 27. April, als vor dem Wohnhaus am Sartrouville-Platz die Straßenlampen schmolzen. 26 Menschen waren in jener Nacht daheim in ihren Wohnungen im vorderen Teil des Gebäudekomplexes. Nicht alle schliefen tief, so wurde der Brand schnell bemerkt. Die Feuerwehr brachte die Bewohner durch die Tiefgarage in Sicherheit. Mehrere Menschen wurden durch Rauchgas verletzt, und der türkische Gemüseladen im Erdgeschoss, das eigentliche Ziel des Anschlags, brannte aus.

Muharrem D. sehen die Ermittler als Einzeltäter an

Ladenbetreiber Hüseyin Alus lebt selbst nicht am Sartrouville-Platz. Er erfuhr durch einen nächtlichen Anruf von dem Feuer. Seit ein paar Wochen nach dem Anschlag verkauft er sein Obst und Gemüse aus vier blauen Containern mit Vorzelt auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes. Den Standort hat ihm die Stadt überlassen, und die Container hat ihm eine Firma aus der Gegend kostenlos hingestellt. Überhaupt habe er viel Solidarität erfahren, sagt Alus, der mit seinem Laden demnächst wieder dorthin umziehen will, wo bald die neuen Glasscheiben eingesetzt werden. Die Fassade oben drüber ist inzwischen frisch gestrichen. Den Leuten aus den Wohnungen dort sei es viel schlechter ergangen als ihm selbst, sagt Alus. Es waren ja sie, die in jener Nacht um ihr Leben fürchten und die danach fast ein ganzes Jahr irgendwo anders unterkommen mussten, bis sie in diesen Tagen endlich wieder in ihre alten Wohnungen einziehen können. Hüseyin Alus glaubt nicht, dass D. mit den Brandanschlag ihn persönlich treffen wollte. Er sieht sich mehr als Zufallsopfer, weil er neben seinem deutschen Pass auch einen türkischen hat. Und vor allem einen türkischen Namen.

Hüseyin Alus ist nicht weit entfernt von Waldkraiburg hier in Oberbayern geboren, genau wie Muharrem D., der Attentäter. Den sehen die Ermittler als Einzeltäter an, er habe sich in den drei Jahren zuvor wohl allein vor dem Computer radikalisiert und sich auch von seiner Familie nicht mehr von seinem neuen Islamismus abbringen lassen. Stattdessen habe D. vergebens versucht, sich dem IS als Kämpfer anzuschließen. So soll er einer von denen geworden sein, die den Terror auf eigene Faust in die Welt tragen. Darin, dass sich so ein IS-Kämpfer in Europa gegen türkische Einrichtungen wenden wollte, sehen manche Beobachter eine neue Qualität. Muharrem D., der aufgeflogen ist, weil er seine Rohrbomben als Schwarzfahrer in der Bahn transportierte, der sich beim Verhör selbst als "Bombenleger von Waldkraiburg" bezeichnete und der gar nicht mehr aufhören wollte, über seine Taten und Pläne zu reden, erschien Soko-Leiter Hans-Peter Butz als "eine narzisstische Persönlichkeit, die die Wahrnehmung genoss". Ein Gutachter hat von einer möglicherweise verminderten Schuldfähigkeit gesprochen, weil D. an Schizophrenie mit paranoiden Zügen leide. Über seine Schuld muss das Gericht befinden, bis Ende August sind mehr als 40 Verhandlungstage angesetzt.

Gemüsehändler Hüseyin Alus hat schon eine Ladung als Zeuge bekommen. Er erinnert sich noch an die ersten Verhöre, an Fragen, die ihm damals das Gefühl gaben, man verdächtige womöglich ihn selbst als Brandstifter oder suche das Motiv in durchaus vorhandenen Waldkraiburger Konflikten. Die Polizei habe eben auch in diese Richtung fragen müssen, sagt Alus. Nicht wenige hatten damals befürchtet, es könnte sich bei dem Brandsatz in seinem Geschäft und bei den Steinen und der stinkenden Säure im Friseurladen, in der kleinen Pizzeria und später in dem Dönerimbiss um rechtsextreme Anschläge gehandelt haben. Auch Pizzeria-Besitzer Erkan Artuk dachte nach eigenen Worten damals in diese Richtung. Ahmed Baskent auch, obwohl er die Vereinsmitglieder vor allzu schnellen Schuldzuweisungen und deren möglicherweise verheerenden Folgen gewarnt hat - zu Recht, wie sich am 8. Mai am Mühldorfer Bahnhof herausstellen sollte.

Zu der großen Solidarität, die auch Ahmed Baskent und Erkan Artuk in jener Zeit gespürt haben, kam nach dem 8. Mai nicht nur die Erleichterung hinzu, dass der Täter gefasst war. Sondern oft unausgesprochen auch darüber, dass es kein Nazi gewesen ist. So sieht das auch Richard Fischer. Der SPD-Stadtrat und frühere Gewerkschaftsfunktionär ist einer von denen, die Solidarität organisieren in Waldkraiburg. 107 Nationalitäten gibt es in dieser Nachkriegsgründung deutscher Heimatvertriebener, ein Viertel der 25 000 Waldkraiburger hat keinen deutschen Pass. Fischer glaubt, dass sich D. für den Brandanschlag bewusst das Herz dieser bunten Stadt ausgesucht hat. Eins aber dürfe es hier nicht geben, das hat auch Bürgermeister Robert Pötsch neulich zu all dem gesagt. Das Urteil solle zeigen, "dass solche Taten keinen Platz in unserer Gesellschaft haben".

© SZ vom 01.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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