Nürnberger Christkindlesmarkt:Stadt der Rauschgoldengel

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"Ihr Herrn und Frau'n, die Ihr einst Kinder wart, Ihr Kleinen, am Beginn der Lebensfahrt ..." So heißt es im berühmten Prolog, mit dem alljährlich das Christkind - heuer war es Nelli Lunkenheimer - von der Empore der Frauenkirche herab den Nürnberger Christkindlesmarkt eröffnet. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Warum es den Lebkuchenbäckern untersagt war, Nürnberg zu verlassen, warum sich drei Bratwürste ein Weckla teilen, warum Schweine glühen und eine Schlange mit Ohren in einen Apfel beißt: Beim Besuch des berühmten Christkindlesmarkts stößt man auf viele Geheimnisse.

Von Jutta Czeguhn und Andreas Radlmaier

Der Tegernseer Adventszauber, die Lindauer Hafenweihnacht oder der Engelkemarkt Emden. Sie alle sollen schöner sein als der weltberühmteste von allen, der Nürnberger Christkindlesmarkt? In der Frankenmetropole herrscht gerade blankes Entsetzen über ein Weihnachtsmarkt-Ranking, das der ADAC veröffentlicht hat, denn Nürnberg taucht darin schlichtweg nicht auf. "Eine Panne beim Pannendienst?", fragen sich da nicht nur die Nürnberger Nachrichten. Doch den zu erwartenden zwei Millionen Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt, die auch in diesem Advent wieder durch die glitzernde Budenstadt auf dem Hauptmarkt drängen, dürfte die Bestenliste des Verkehrsclubs ziemlich (Brat-)Wurst sein. Und wer zu Beklemmungsattacken neigt, wenn's dort an den Wochenenden zugeht wie in der Tokioter U-Bahn: Nürnberg hat auch abseits des zentralen Lebkuchentrampelpfads viel zu bieten. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

Nostalgie und Budenzauber

Ob's stimmt? Der Legende nach soll in Nürnberg einst der Rauschgoldengel erfunden worden sein. An den Ständen auf dem Christkindlesmarkt findet man sie und jede Art von Weihnachtsdekor zuhauf. (Foto: Matthias Merz/dpa)

Längst gibt es Adventskreuzfahrten auf dem Main-Donau-Kanal, die auch den Nürnberger Christkindlesmarkt ansteuern. Natürlich legen die Flussschiffe nicht direkt dort an, Busse karren die Menschen vom Hafen zum Hauptmarkt. Wer den zuweilen abenteuerlicheren Landweg per Bahn wählt, für den sind es vom Hauptbahnhof nur ein paar Gehminuten durch die Fußgängerzone; Maroni-Buden, Glühweinstände und die Weihnachtsbeleuchtung in der Altstadt weisen den Weg. Noch vor dem Käthe-Wohlfahrt-Laden geht es rechts auf den Hans-Sachs-Platz zur "Kinderweihnacht", wo sich ein Nostalgie-Karussell dreht (ein weiteres und ein Weihnachtsriesenrad stehen übrigens auf dem Jakobsplatz).

Eine bayerische Bratwurstbude (Symbolfoto). (Foto: Ardan Fuessmann/Imago)

Um dem Gedränge in Richtung Hauptmarkt zu entkommen, schleicht man sich am besten über die Engelsgasse auf den Christkindlesmarkt. Wo einen der Hunger gleich zu einer der Grillbuden treibt. Die ersten "Drei im Weckla" (oder heißt es "Drei im Weggla"? Egal!) - also kleine Nürnberger Rostbratwürste im Brötchen, wahlweise mit Sauerkraut, den Senf pumpt man sich selbst darauf - sind kulinarisch gesehen eine eher puristische Angelegenheit ( eigenes Museum in der Bratwurstgasse 1!). Da bleibt noch Raum im Magen, was gut ist, denn es gibt so viel zu probieren: Fleischküchla etwa, oder die schwarz geräucherten Bratwürste, die in Franken "Bauernseufzer" oder "Schlotengel" heißen und mit Kren verspeist werden. Vegetarier oder Veganer finden hier gewiss auch etwas, Maiskolben hat man an einer der Buden erspäht.

Will man sich nicht selbst wie eine Bratwurst in der Semmel fühlen, kommt von Nürnberger Freunden der gute Rat, man solle den Christkindlesmarkt am besten unter der Woche oder sonntags in den Abendstunden, keinesfalls aber an Samstagen besuchen. Dann habe man schön viel Raum, alles zu begutachten, was an den Ständen feilgeboten wird. Natürlich kitscht es dort mitunter gewaltig, aber wer bleibt da nicht verzückt stehen: bei den Winzig-Möbeln für die Puppenstube, den Rauschgoldengeln, die der Legende nach ein Nürnberger Puppenmacher zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges ersonnen hat, als sein Töchterchen todkrank lag, und der besorgte Vater ein Flügelschlagen vernommen haben will. Ob auch die Zwetschgenmännla oder -weibla eine Nürnberger Erfindung sind? In jedem Fall findet man sie hier in mehr als 300 Varianten. Eine Engelsgeduld verlangt wohl die Herstellung.

Christkindlesmarkt, bis 24. 12., Mo. - Fr, 10 - 21 Uhr, Heiligabend bis 14 Uhr, Infos unter www.christkindlesmarkt.de

"Macht hoch ..."

Blick von oben in die wimmelnde, schimmernde Christkindlesstadt. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Apropos Ausdauer: Der Mensch steigt seiner Stadt gerne aufs Dach. In Nürnberg sowieso. Aktuell besonders begehrt ist etwa die "Cloud One"-Bar im 14. Stockwerk des Hotels Motel One am Hauptbahnhof mit ihrem famosen Altstadt-Blick (aber auch Einlassstopp-Risiko). Die Variante ohne Aufzug: eine Turmbesteigung der Sebalduskirche. Der Panoramablick ist noch spektakulärer. Ein Konditionstest ist das obendrein. Auf der Westseite des gotischen Wahrzeichens steigt man hinter einer alten Holztür himmelwärts. 217 Stufen - gefühlt sind es etliche mehr - geht es im Südturm über Wendeltreppen und breite Holzleitern hinauf zum Engelschor, zur fast vier Tonnen schweren "Sturm"-Glocke, zu imposantem Dachgestühl und der einstigen Vogelnest-Behausung für - so die Vermutung - Brandwächter oder Glöckner. Oben dann, in 52 Metern Höhe, auf der Plattform mit Sandstein-Balustrade: die freie Sicht in alle Himmelsrichtungen. Und nach unten in die wimmelnde, schimmernde Christkindlesstadt. Inklusiv ist dieser Aufstieg nicht, exklusiv mit Sicherheit.

Nürnberg von oben: Do. - Sa., ab 16.30 Uhr Führungen im Stundenrhythmus. Karten in der Sebalduskirche (Sebalder Platz), dort gibt es an den Samstagen um 11 Uhr auch Führungen für Kinder, von 16 - 18 Uhr "klingende Kirche"

Pilgerlabsal in der Maulbeere

Ein architektonisches Schmuckstück ist der Sebalder Platz, an dem auch die historischen Postkutschfahrten vorbeiführen. Die Kutscher der Pferdepost sind übrigens ziemlich up to date. Kein Problem, wenn Fahrgäste mit dem Handy bezahlen wollen. (Foto: Ardan Fuessmann/Imago)

Wer lieber am Boden bleibt: Am Sebalder Platz liegt der Beweis, dass Nürnberg auch Platz-Gestaltung kann. Man sollte dieses architektonische Schmuckstück besuchen: Der Sebalder Pfarrhof, mehr als 800 Jahre alt, überrascht nach der aufwendigen Sanierung mit feinen Bau-Details und Geheimnissen, etwa einen in der Wand verbauten jüdischen Grabstein aus dem Jahre 1334, und der Attraktivität eines großstädtischen Oasenorts. Schließlich schliefen hier einstmals wohl Sebaldus-Pilger. Innenhof und Kapitelsaal sind eine Augenweide. Und stehen für alle offen. Das Café Maulbeere verstärkt diesen Eindruck der Behaglichkeit. Man sitzt entweder in der ehemaligen "Wöchnerstube" (wo der jeweilige Pfarrer seinen Wochendienst versah) oder genießt im wunderbaren Innenhof bei selbst gemachten Kuchen, Glühwein oder einem Frühstück dieses Ambiente, das die Seele beruhigt.

Sebalder Pfarrhof und Café Maulbeere (Albrecht-Dürer-Platz 1): Di., 12 - 18 Uhr, Mi., 9 - 18 Uhr, Do. - Sa., 9 - 20 Uhr, Infos unter www.sebalduskirche.de

Ein Glühschwein in der Spielzeugstadt

Drinnen im Spielzeugmuseum Nürnberg schwärmen die Pferdchen aus ... (Foto: Spielzeugmuseum Nürnberg)
... draußen glühen die Schweinchen. (Foto: Marvin Ringer)

Der Name dieser "guten Bude" ist keineswegs das Ergebnis einer vermaledeiten Autokorrektur, sondern vielmehr Ausdruck eines bestimmten Humors. "Glühschwein" nennt sich der etwas versteckt liegende Hotspot auf dem Gelände des Spielzeugmuseums. Dort, wo im Sommer Kinder auf dem Spielplatz tollen, erobern junge Abendaktive diese - pardon, Kalauer - saugute Rückzugs-Alternative voll Glühschein. Metzgerei-Requisiten (rosa Filzschweine, Schinken und Würste als Papp-Spott oder Plüsch-Ware) in der Auslage, rot-weiße Schirme als Dach signalisieren: Hier ist und isst man konsequent regional. Der Wein kommt aus Unterfranken, dazu gibt's heiße Suppen, Gin-Punsch, Waffeln und Schäufele im Weckla. Vorher sollte man freilich unbedingt nebenan ins geliftete Spielzeugmuseum schauen. Der Parcours durch die einstige Spielzeugstadt Nürnberg verschärft die Lust, kindliche Unbekümmertheit zu konservieren.

Spielzeugmuseum und Glühschwein (Karlstr. 13 bis 15): Öffnungszeiten Museum, Di. - Fr., 10 - 17 Uhr, Sa./So.,10 - 18 Uhr. Glühschwein, täglich 16 - 22 Uhr, bis Anfang Januar, Infos unter www.museen.nuernberg.de

Ein Abstecher nach Goho

Goho sagt "Hoho": Der Weihnachtsmarkt an der Dreieinigkeitskirche auf dem Veit-Stoß-Platz im Szeneviertel Gostenhof. Hier fand auch der erste Nürnberger Christkindlesmarkt nach dem Zweiten Weltkrieg statt. (Foto: privat)

Einige wenige U-Bahnstationen, und man kann dem Weihnachtstrubel der Nürnberger Altstadt entkommen: nach Gostenhof. Die Hiesigen sagen "Goho", die Auswärtigen suchen nach einem Label, fühlen sich hier irgendwie an Berlin-Kreuzberg erinnert und sprechen von Szene- und Studentenviertel . Sei's, wie's mag, Gostenhof, der ehemalige Arbeiterstadtteil, ist etwas ganz Eigenes. Alt-Nürnberg trifft auf Subkultur, trifft auf die Welt. Es lohnt unbedingt, die Gegend zwischen den U-Bahnhöfen Gostenhof und Bärenschanze zu erkunden, nicht nur im Advent. An der Fürther Straße reihen sich Restaurants, Bars, Imbisse, Boutiquen, Second-Hand-Märkte. In den Seitenstraßen stößt man auf Schankwirtschaften, Galerien und Ateliers, auf Kleinkunst im "Gostner Hoftheater" oder Stücke für Kinder im "Rootslöffel".

Und einen entspannten Weihnachtsmarkt ("Goho Hoho") gibt es dort auch: an der Dreieinigkeitskirche auf dem Veit-Stoß-Platz. Hier wärmt man sich mit Glühbier, Erdbeer-Lava und Christmas Crumble oder bucht "GoHo & Zwetschgermoh", einen historischen Spaziergang auf den Spuren des ersten Nürnberger Christkindlesmarktes nach dem Zweiten Weltkrieg, der genau hier stattfand. Denn damals war der Hauptmarkt noch verwüstet. Gezahlt wurde die Bratwurst 1945 wohl mit Zigaretten und Lebensmittelmarken.

Salon Regina, ein Wohlfühl-Café im Nürnberger Stadtteil Gostenhof. (Foto: privat)

Wer eine Pause im Warmen einlegen möchte, wählt den "Salon Regina". Was nach einem Friseurladen guter alter "Waschen-Schneiden-Legen"-Schule klingt, ist ein sehr atmosphärisches Café mit Vintage-Kaffee-Stube-Interieur. Mag die Speisekarte auch gestaltet sein wie zu Omas Zeiten, serviert wird hier alles zwischen Hausmannskost, mediterran, vegan und vegetarisch. Und drei Gast-Wohnungen gibt's auch, für alle, die länger bleiben wollen in Goho.

Goho Hoho - Der Gostenhofer Adventszauber, Veit-Stoß-Platz, Di., Mi., So., 12 - 21 Uhr, Do., Fr., Sa., 12 - 23 Uhr, montags geschlossen, Infos unter https://www.schanzenbraeu.de/news/gostenhof-adventsmarkt/

Salon Regina, Fürther Straße 64, Mo. - Sa., 10 - 23 Uhr, So., 10 - 18 Uhr, Infos unter www.salonregina.de

Ade sagen zum Engelsgruß

Der "Englische Gruß" von Veit Stoß in der St. Lorenzkirche: Würde einem nicht mit der Zeit der Nacken schmerzen, man könnte dieses Kunstwerk stundenlang betrachten. (Foto: Johannes Simon)

Ehe es zurück zum Bahnhof geht, muss man noch rasch beim Engelsgruß in der St. Lorenzkirche vorbeischauen. Ein Nürnberg-Besuch, ohne sich den Hals nach diesem Wunder spätgotischer Bildhauerkunst verdreht zu haben, ist schlicht nicht vorstellbar. Da hängt er im Hallenchor, sechs Meter über dem Boden, der "Englische Gruß". Der Erzengel Gabriel verkündet Maria, dass sie demnächst Gottesmutter zu werden habe. Erschrocken ob der Nachricht, lässt sie das Buch in ihrer linken Hand fallen. Umrahmt ist die berühmte "Fürchte Dich nicht!"-Szene von einem Kranz goldener Rosenblüten, an dem geheimnisvoll neckisch eine Schlange mit Ohren baumelt, die in einen Apfel beißt.

Aus einer Linde des Sebalder Waldes hatte Veit Stoß dieses Zeugnis katholischer Marienverehrung 1518 geschnitzt. Als in Nürnberg dann 1525 der lutherische Glaube einzog, überstand die Verkündigung den Bildersturm, wurde aber verhüllt und noch höher ins Kirchengewölbe hinauf gezogen beziehungsweise später in die Kaiserburg verbracht. Erst nachdem Nürnberg Bayern zugefallen war, ging es für den Engelsgruß 1817 zurück nach St. Lorenz, wo aber schon nach wenigen Tagen ein Seil riss und die Kunst zu "Staub und Mehl" zerschellte. Doch die großzügigen Protestanten ließen Maria und Co. restaurieren. Den Zweiten Weltkrieg hat der Engelsgruß eingelagert im Kunstbunker überstanden. Was für eine Geschichte!

St. Lorenz, Besichtigungszeiten: Mo. - Sa., 9 - 17.30 Uhr, So., 13 - 15.30 Uhr, an Feiertagen bis 15.30 Uhr, Infos unter www.lorenzkirche.de

Süßes für die Daheimgebliebenen

Mitbringsel für die Lieben daheim: Elisen-Lebkuchen mit Eierlikör- und Glühweingeschmack, mit Kaffeebohnen auf der Glasur, sowie süßes Baklava und ein Muffin aus Nürnbergs Partnerstädten Nablus (Westjordanland) und Hadera (Israel), denen auf dem Christkindlesmarkt ein kleines Buden-Viertel reserviert ist. (Foto: privat)

Echte Nürnberger Lebkuchen tragen seit 1996 das EU-Qualitätssiegel "geschützte geografische Angabe" (g.g.A.). Weihnachtsgebäck, das sich mit diesem Label schmücken will, muss also auf Nürnberger Stadtgebiet hergestellt sein. Darüber wird heute noch so streng gewacht wie in früheren Jahrhunderten, als die Rezeptur des Naschwerks so geheim war, dass der Rat der Stadt den Lebküchnern verbot, Nürnberg zu verlassen. Zum Glück aber dürfen die Lebkuchen die Stadt verlassen. Und wer über den Christkindlesmarkt und durch die Altstadtgassen geht, um für die Lieben daheim eine süße Auswahl zu erjagen, bekommt den Eindruck, dass es immer noch ziemlich geheimbündlerisch zugeht in der Zunft der Lebzelter.

Der "Original Elisen-Lebkuchen" (das Wort Lebkuchen spricht der Nürnberger offenbar mit sehr kurzem "e") muss zu mindestens 25 Prozent aus Nüssen bestehen, und zwar ausschließlich Mandeln, Haselnuss- oder Walnusskerne, und es dürfen nicht mehr als zehn Prozent Mehl im Spiel sein. Vegane Varianten gibt es längst und wohl alle Freiheiten bei der Glasur, denn man stößt auf Geschmacksnoten wie gesalzenes Karamell, Eierlikör - oder Glühwein. "Da könnt' ich mich neilegn", schwärmt der Verkäufer an einem Stand. "Man beißt nei, und ned, dass Sie etz meinen, man dringt a Dassen Glühwein, na, na, ein ganz dezender Geschmag." Von drei alkoholfreien Glühwein-Lebkuchen hat die Heimfahrt im Zug nach München übrigens nur einer überdauert.

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Trotz des Gaza-Kriegs öffnen auch in diesem Jahr die Buden der Partnerstädte in Israel und Palästina. "Ein schönes Signal" sieht darin die Stadtspitze. Größere Sicherheitsbedenken gebe es nicht.

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