Obdachlos und queer:"Ein Dominostein fällt um und dann klackert alles der Reihe nach mit um"

Lesezeit: 4 min

Das Leben auf der Straße - zum Beispiel am Nürnberger Hauptbahnhof - ist oft grausam zu Obdachlosen. Eine queere Identität macht solche Menschen oft noch verletzlicher. (Foto: IMAGO/Wolfgang Maria Weber)

In ganz Deutschland gibt es nur zwei Unterkünfte für queere Wohnungslose, eine davon betreibt der Verein Fliederlich in Nürnberg. Ein Besuch.

Von Lina Krauß

Eine Wohngemeinschaft mitten in Nürnberg: vier Zimmer, eingerichtet jeweils mit einem weißen Bett, einem Schrank oder einer Kommode, Nachttisch, Schreibtisch, Schreibtischstuhl und Spiegel. Küche und Bad teilen sich die Bewohnenden. So weit, so gewöhnlich. Doch diese Wohngemeinschaft ist besonders - sie ist eine von lediglich zwei Unterkünften für queere Wohnungslose in Deutschland. Insgesamt hat der Verein Fliederlich zwei Wohnungen angemietet. Damit stehen queeren Wohnungslosen sechs Zimmer zur Verfügung, zusätzlich gibt es ein Notschlafzimmer. Das Projekt trägt den Namen "Uschis Queeres Wohnen - QuWo", in Erinnerung an den verstorbenen Stadtrat Uwe Scherzer. Er setzte sich als Politdragqueen Uschi Unsinn dafür ein, dass es ein Angebot für queere Wohnungslose in Nürnberg gibt.

Gari Jaiser, sozialpädagogische Fachkraft bei Fliederlich, beschreibt die Wohngemeinschaften als "Schutzort". "Es braucht Unterbringungsmöglichkeiten, wo sich die Leute sicher fühlen." Generell seien Wohnungslose von Diskriminierung betroffen. Eine queere Identität mache sie noch verletzlicher. "Es wird immer schwieriger, je mehr Faktoren hinzukommen", sagt Jaiser. Die sozialpädagogische Fachkraft sitzt in ihrem Büro bei Fliederlich e. V.. Die Schubladen auf dem Schreibtisch haben unterschiedliche Farben - wie ein Regenbogen - genauso wie Figuren auf einem Regal. Jaiser erklärt: Die Wohnunslosenhilfe sei auf ein Zweigeschlechtersystem ausgelegt - es gibt Unterkünfte für Männer oder für Frauen. Gemischte Unterkünfte oder Einzelpensionen seien eine Seltenheit. Insbesondere für trans-und intersexuelle sowie nicht-binäre Personen sei das schwer. "Ich selbst bin zum Beispiel divers. Wo sollte ich dann aufgenommen werden?", sagt Jaiser. Viele Wohnungslose würden ihre queere Identität deshalb verstecken.

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Paleo, dessen Nachname nicht in der Zeitung stehen soll, wohnt in einer der beiden Wohngemeinschaften. Der 20-Jährige geht offen mit seiner Identität als Transmann um. Vor ungefähr zwei Jahren hat er sich vor seinen streng muslimischen Eltern geoutet. Sie akzeptierten das nicht und schmissen ihn raus.

So wie Paleo geht es auch vielen anderen queeren Wohnungslosen. "Die Leute sagen zwar, sie sind offen für queere Personen, aber im eigenen Umfeld ist das noch mal was anderes", erklärt Jaiser. Aufgrund von Diskriminierung seien queere Menschen zudem mehr von psychischen und physischen Folgen betroffen. Es falle ihnen deshalb schwerer, einem Job nachzugehen oder die Schule zu besuchen. Die queere Identität sei in der Regel nicht der Hauptgrund für Wohnungslosigkeit, aber ein Faktor, der die Situation noch schwieriger macht. Generell gebe es das Stereotyp, dass Menschen alkoholabhängig werden und dann ihre Wohnung verlieren. Tatsächlich könne alles ein Auslöser sein. "Ein Dominostein fällt um und dann klackert alles der Reihe nach mit um", sagt Jaiser.

Bei Paleo war tatsächlich seine queere Identität der Auslöser für die Wohnungslosigkeit. Zuerst konnte er bei seiner damaligen Freundin unterkommen, dann wenige Wochen bei einem Freund. Bevor er ins QuWo kam, wohnte er in einer Obdachlosenunterkunft in Nürnberg. Im Gegensatz zu vielen anderen queeren Wohnungslosen hatte er Glück, erzählt er bei einem Gespräch am Telefon: Er hatte ein Einzelzimmer und wohnte mit nur drei weiteren Personen auf einer Etage. Nur mit den Security-Mitarbeitenden habe es damals ein wenig Stress gegeben. Paleo und ein anderer Transmann, der jetzt mit ihm im QuWo wohnt, wollten das Herren-WC benutzen. Die Security sagte, das gehe nicht so einfach. Schließlich sei das biologische Geschlecht der beiden weiblich. "Aber bis auf das war der Aufenthalt problemlos", sagt Paleo.

"Die Leute sollen stabil sein, bevor sie ausziehen, damit sie eine neue Wohnung auch halten können."

In der Wohngemeinschaft von Fliederlich e. V. fühlt er sich jetzt trotzdem sicherer. Er müsse hier keine Angst haben, weil er unter "Gleichgesinnten" sei. "Hier kann man sich auf den Alltag konzentrieren. Eben gewisse Dinge vergessen und mal runterkommen", beschreibt Paleo. Er geht noch zur Schule - das nimmt den größten Teil seines Alltags ein. Gut sei auch, dass er keinen Druck habe, eine neue Wohnung zu finden. Die Zeit in den Wohngemeinschaften von Fliederlich ist nicht begrenzt. Das ist Gari Jaiser wichtig: "Die Leute sollen stabil sein, bevor sie ausziehen, damit sie eine neue Wohnung auch halten können."

Das QuWo ist im Gegensatz zu vielen anderen Wohnungslosenunterkünften nicht sieben Tage die Woche 24 Stunden besetzt. Jaiser ist 20 Stunden pro Woche dafür verantwortlich. Die sozialpädagogische Fachkraft kümmert sich um die Beratung von queeren Wohnungslosen oder Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Die Zuweisung der Wohnungslosen zu einer Unterkunft geschieht dann durch die Stadt.

In der Wohnungslosenunterkunft für queere Menschen in Nürnberg, getragen vom Verein Fliederlich, arbeitet Gari Jaiser als sozialpädagogische Fachkraft. (Foto: Lina Krauß)

Zieht jemand ins QuWo, ist Jaiser dann wieder die Ansprechperson: Sie geht mit auf Ämter, unterstützt bei der Wohnungssuche und hilft in Konfliktsituationen. Die Bewohnenden können sich frei strukturieren und ihren Alltag selbst gestalten. Jaiser stellt sich in der Arbeit auf die individuellen Bedürfnisse der Personen ein. "Manche haben einen geregelten Alltag. Andere, die vielleicht auf der Straße gelebt haben, müssen sich erst mal ausruhen", erklärt Gari Jaiser. Bei diesen Menschen gehe es zunächst darum, dass sie sich sicher fühlen.

Um das Sicherheitsgefühl der Bewohnenden zu stärken, macht der Verein Fliederlich die Adressen der Wohngemeinschaften nicht öffentlich. So besteht keine Gefahr, dass zukünftige Arbeitgeber oder Vermieter von der Wohnungslosigkeit erfahren oder die Menschen unfreiwillig nur durch ihre Adresse geoutet werden.

Jaiser sieht einen großen Bedarf für solche Unterkünfte speziell für queere Wohnungslose - nicht nur in Nürnberg, auch an anderen Orten. Die Sozialpädagogische Fachkraft des QuWo bekommt teilweise sogar Anrufe aus anderen Bundesländern. Dann kann Jaiser nur beratend tätig sein, erklären, worauf die Menschen achten müssen und welche Fragen sie stellen sollten, bevor sie in eine Unterkunft einziehen. Jaiser betont, dass es bisher zu wenige Studien zu queeren Wohnungslosen gibt. So sei es schwer, die Wichtigkeit hervorzuheben und zu überzeugen, dass Geld in die Hand genommen wird.

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