Landtagswahl in Bayern:Erst zehn Minuten Pflege, dann lange einsame Stunden

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Eva Schwab arbeitet im Berchtesgadener Land in der ambulanten Altenpflege. Sie kennt die Gegend und die Leute. (Foto: Ana Maria Michel)

Im Wahlkampf verspricht Markus Söder, Bayern zum "Pflegeland Nummer eins" zu machen. Die Realität ist davon noch weit entfernt. Was brauchen Patienten und Pfleger wirklich? Unterwegs mit einer Altenpflegerin.

Reportage von Ana Maria Michel, Bischofswiesen

Der Himmel ist so blau, dass er sogar für bayerische Verhältnisse wie ein Klischee wirkt. Bäume und Wiesen leuchten grün, als wäre der Herbst noch weit weg. Darüber thronen die mächtigen Gipfel der Berchtesgadener Alpen. Aber auch hier ist der demografische Wandel längst angekommen, die Menschen werden alt und brauchen Pflege. Eva Schwab ist auf dem Weg zu ihnen, es ist zehn Uhr vormittags. In ihrem weißen Suzuki Swift mit dem Caritas-Logo fährt sie immer weiter und weiter die Serpentinen hoch zu einer Patientin, die in einem kleinen Ortsteil von Berchtesgaden wohnt.

Im Wohnzimmer hängen noch Luftballons und eine Geburtstagsgirlande, die Frau ist vor kurzem 90 geworden. Schwab ist gekommen, um der Patientin die engen Kompressionsstrümpfe anzuziehen, das kann sie alleine nicht mehr. Die Frau kommt dafür mit ihrer Gehhilfe herein. Es dauert seine Zeit, bis sie in ihrem Sessel sitzt.

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Während Schwab arbeitet, wird geratscht. Die 90-Jährige erzählt, dass sie drei Tage lang nicht fernsehen konnte, weil sie etwas auf der Fernbedienung verstellt hatte. Zum Glück kam ein junger Pfleger, der den Fernseher "repariert" hat. Schwab macht einen Spruch über Männer und Technik, die alte Frau lacht. In den Nächten geht es ihr nicht so gut, da hat sie meist Schmerzen. Zwei Mal hat Schwab der Patientin schon zum Abschied die Hand geschüttelt, doch es gibt noch viel zu erzählen. Die Frau wünscht sich, dass ihre Verwandten sie häufiger besuchen, doch die haben viel zu tun. Zum Schluss darf die Pflegerin die Wohnung nur verlassen, wenn sie einen Keks mitnimmt. Noch einmal Händeschütteln und weiter. Es ist die zehnte Wohnung, die Schwab an diesem Morgen verlässt, ihre Tour hat um 6.15 Uhr begonnen.

Zwischen den Patienten liegen Berge, Täler und im Winter jede Menge Schnee. Die Fahrten dauern lange, deshalb ist die Zahl der Patienten relativ klein. In der Stadt müssen ambulante Altenpfleger meist mehr Menschen versorgen. Dafür sieht Schwab bei diesen Kollegen ein anderes Problem: Wegen der teuren Mieten könnten sich Altenpfleger Städte wie München schlicht nicht leisten.

Schwab arbeitet für das Caritas-Haus St. Felicitas in Bischofswiesen. Es ist eine kleine Einrichtung mit wenigen Patienten. Das Personal reicht im Moment gerade so, aber die meisten Mitarbeiter sind zwischen 40 und 50 Jahre alt - der Nachwuchs fehlt. Und im Landkreis Berchtesgaden gibt es viele Leute, die einen Pflegeplatz suchen und nicht finden. Experten gehen davon aus, dass im Jahr 2030 Zehntausende Pflegekräfte in Bayern fehlen werden.

Markus Söder hat sich vor der Landtagswahl viel für die Pflege vorgenommen. Um Bayern zum "Pflegeland Nummer eins" zu machen, hat der Ministerpräsident ein Landespflegeamt eingerichtet, das seit September das bayerische Pflegegeld austeilt. "Alle waren davon begeistert und haben es gleich beantragt", sagt Schwab. Die 1000 Euro im Jahr, die ab dem zweiten Pflegegrad gezahlt werden, sollen vor allem pflegende Angehörige entlasten. Davon können sie im Caritas-Haus etwa sieben Tage Kurzzeitpflege für einen Patienten bezahlen.

Auf dem Land pflegen noch mehr Großfamilien ihre Alten als in der Stadt. Doch auch sie müssen meist arbeiten und haben wenig Zeit. Aber für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch Söders Pflegepaket keine Lösung. Und gegen die Einsamkeit im Alter hilft auch ein Landespflegegeld nicht, findet Schwab. Es bräuchte mehr Betreuung und mehr Leute, die Zeit haben, sich intensiv um die Senioren zu kümmern.

Der ambulante Pflegedienst von St. Felicitas ist in fünf Gemeinden unterwegs. 17 Mitarbeiter kommen auf gut 70 Patienten. Zu manchen von ihnen müssen sie dreimal täglich fahren, zu anderen nur ein Mal pro Woche. Die 48-jährige Schwab ist hier aufgewachsen, sie kennt die Gegend und die Leute. Sie hat keine Hemmungen, die Menschen hier zu pflegen. "Die meisten waren für mich schon alte Leute, als ich ein Kind war", sagt sie.

Nächste Station an diesem Morgen: Eine Frau, deren Mann sie früher als Lehrer in der Schule unterrichtet hat. Im Eingangsbereich des Hauses hängt noch sein Hut, obwohl er seit ein paar Jahren tot ist. Die Patientin ist bettlägerig, doch sie empfängt Schwab mit strahlenden Augen und einem Lächeln. Das sind für die Pflegerin die schönsten Momente. "Für manche ist es das Highlight des Tages, wenn ich für zehn Minuten bei ihnen bin", sagt Schwab. Nur dass auf diese zehn Minuten lange einsame Stunden folgen.

Seit 16 Jahren arbeitet Schwab in der Pflege. Dabei war es ihr früher ein Graus, in ein Krankenhaus zu gehen. Eigentlich ist sie gelernte Holzbildhauerin. Krampusmasken, Krippenfiguren, Salatschüsseln: Das kann Schwab alles schnitzen. Doch als ihr Mann mit nur 40 Jahren plötzlich starb und sie mit zwei Kindern alleine dastand, konnte sie mit der Holzkunst ihre Familie nicht alleine versorgen. Über einen Job als Küchenhilfe im Seniorenheim kam sie auf die Idee, in der Altenpflege zu arbeiten. Zunächst als Pflegehelferin, dann machte sie eine Ausbildung zur Fachkraft, die staatlich gefördert wurde.

Vor allem wegen der vielen Weiterbildungsmöglichkeiten ist die Pflege für sie spannend. Inzwischen hat Schwab eine Fortbildung zur Wundexpertin hinter sich. Auf Station will sie nicht mehr zurück. "Ich finde es erhebend, über die Berge zu fahren", sagt sie. Außerdem kommen ihr die Leute in ihrem eigenen Zuhause zufriedener vor als im Heim, auch wenn viele ihre Wohnungen alleine nicht mehr verlassen können.

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Schwab hat eine klassische Gesangsausbildung gemacht. Ihre Patienten wissen das und bitten sie manchmal, später auf ihren Beerdigungen zu singen, Ave Maria zum Beispiel oder Time to say Goodbye. "Jeder von ihnen hat sein Leben gemeistert", sagt sie. "Das muss man erstmal schaffen." Schwab sieht bei ihren Patienten nicht nur die Krankheiten und die Gebrechen. Sie nimmt sie als Menschen ernst.

Trotz Pflegern wie Schwab ist das Image der Altenpflege schlecht. "So etwas willst du wirklich machen?", hat auch sie oft gehört, wenn sie erzählte, dass sie in der Pflege arbeiten möchte. Schwab findet, dass die Politik etwas dagegen tun muss. Im Wahlkampf verspricht die SPD, Werbung für den Pflegeberuf zu machen und die Ausbildung zu reformieren. Die Grünen setzen sich ebenfalls für eine bessere Situation in der Pflege ein. Doch ein richtig wirksames Mittel für das Imageproblem haben auch die Parteien neben der CSU noch nicht gefunden.

Heute sind alte Menschen in der Gesellschaft weniger sichtbar - das Thema wird zweitrangig behandelt. "Die jungen Menschen denken nicht daran, dass das Alter einmal kommt." Wenn der Opa stirbt, seien die Enkelkinder nicht mehr dabei. Schwab findet: Man muss das Freiwillige Soziale Jahr stärker fördern und den Beruf durch ein höheres Gehalt attraktiver machen. Auch Projekte mit Schülern seien sinnvoll. "Der Mensch ist ein soziales Wesen, dafür muss man etwas tun." Und welche Direktmaßnahme ihr persönlich helfen würde? Eine Freisprechanlage im Auto, sagt Schwab und lacht.

Die bayerische Staatsregierung will in den nächsten Jahren mehr Pflegeplätze schaffen. So sollen etwa 1000 neue Langzeitpflegeplätze für 60 Millionen Euro eingerichtet werden. Auch neue Kurzzeitpflegeplätze sind in Planung, um Angehörige zu entlasten. Im Wahlkampf hat Markus Söder sogar eine Pflegeplatzgarantie für Bayern versprochen. Doch woher sollen die Pfleger dafür kommen?

Das fragt sich auch Andrea Schnurrer. Sie ist Heimleiterin und Schwabs Chefin. In der Politik wurde im Sommer die Einführung eines sozialen Pflichtjahrs diskutiert. Schnurrer findet jedoch, dass man Menschen nicht dazu zwingen sollte, in der Altenpflege zu arbeiten. Mit Schauder denkt sie an die Neunzigerjahre zurück, als viele Langzeitarbeitslose in die Pflege gesteckt worden seien. Dass in der Pflege früher alles besser war, stimmt ihrer Ansicht nach nicht. Dank technischer Hilfsmittel sei der Beruf heute körperlich weniger anstrengend. Ob wir irgendwann einmal alle von Pflegerobotern gepflegt werden? Schnurrer hätte nichts dagegen. Doch sie weiß auch: Ohne den Menschen geht es nicht.

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Im Moment sitzen in den Pflegeklassen vor allem junge Männer aus Bosnien oder Kroatien. Im Seniorenheim werden sie von den Bewohnern wertgeschätzt, sie sind männliches Personal meist auch aus dem Krankenhaus gewöhnt. In der ambulanten Pflege ist es dagegen schwieriger. Manche wollen diese Männer nicht im Haus haben. Die Patienten werden sich daran gewöhnen, sagt Schnurrer. Es muss sein, denn die Kräfte aus dem Ausland werden dringend gebraucht. Manchmal fragt sich die Heimleiterin aber schon, wer die Alten in deren Ländern pflegen soll. Und wer sagt, dass diese Menschen nicht irgendwann auch einmal wieder zurück in ihre Heimat wollen?

Lenuta Nedelea ist eine, die geblieben ist. Sie arbeitet seit zehn Jahren im Altenheim St. Felicitas auf Station. 1990 kam Nedelea mit ihrem Mann und den beiden Kindern aus der rumänischen Hauptstadt Bukarest ins Berchtesgadener Land. Warum sie nach Deutschland kam? "Wir haben von etwas anderem geträumt." Damals war Nedelea 27 Jahre alt. In ihrer Heimat hatte sie Abitur und eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin gemacht. Hier arbeitete sie zunächst im Hotel, in Gaststätten und als Verkäuferin. Zufrieden war sie nicht.

Ein Bekannter von ihr arbeitete in der Altenpflege. Der erzählte von der Dankbarkeit der alten Menschen. Nach einem Praktikum entschied sich Nedelea für eine Ausbildung zur Pflegefachkraft. Das war vor fast 20 Jahren, heute ist sie 55. Bis zur Rente will sie auf jeden Fall weitermachen. In ihrem Beruf müsse man genau beobachten können, ruhig und empathisch sein, zählt Nedelea auf, "für die Pflege braucht man Herz und Verstand." Sie sortiert Medikamente in kleine Plastikboxen, jeder Bewohner hat eine, mit seinem Namen beschriftet. Manche Patienten brauchen gleich mehrere dieser Boxen, so viele verschiedenen Arzneien müssen sie einnehmen.

Die Sprache muss man beherrschen, wenn man in der Altenpflege arbeiten möchte, sagt Nedelea. Den Dialekt im Berchtesgadener Land zu verstehen, war am Anfang nicht leicht. Aber die meisten Leute mögen es, wenn sie nachfragt, wenn sie mal etwas nicht versteht. Probleme wegen ihrer Herkunft habe es nie gegeben, jedenfalls kann sie sich nicht erinnern. In Bayern ist sie längst angekommen.

Reportage zur Landtagswahl Thema Pflege Pflegerin Lenuta Nedelea (Foto: Ana Maria Michel)

"10 Uhr Messe, 10.45 Uhr Singkreis, 14.30 Uhr Bingo", steht auf einer Tafel in dem Flur mit den orangefarbenen Wänden. Es wird viel angeboten, um die Bewohner zusammenzubringen und zu beschäftigen. Auch gemeinsames Backen gehört dazu.

Heute hat Nedelea die Frühschicht, bald ist Feierabend. Auf einem Wagen fährt sie vorher am frühen Nachmittag noch Kaffee und Zitronenkuchen durch die Gänge. Eine Frau möchte keinen Kuchen, ein Mann trinkt seinen Kaffee gerne mit Milch. "Nach einer gewissen Zeit kennt man ihre Wünsche", sagt Nedelea. In einigen Zimmern läuft der Fernseher. Sehr laut, versteht sich, viele hören nicht mehr so gut.

Eine Frau, die seit 1958 in Berchtesgaden lebt, erzählt, dass sie früher sehr gerne wandern gegangen ist. Sie kam vor sieben Jahren gemeinsam mit ihrem Mann ins Altenheim. Seitdem er nicht mehr lebt, ist sie alleine. Immerhin sind die Berge noch da, die sie an an ihre "wilde Zeit" erinnern, wie sie sagt. Natürlich hat nicht jedes Altenheim in Bayern das Glück, am Fuße des Watzmanns zu liegen. Doch es braucht nicht unbedingt eine spektakuläre Aussicht, sondern Menschen, die den Senioren das Gefühl geben, im Alter nicht ganz alleine zu sein.

Eine Frau ist erst heute ins Altenheim gekommen. Nedelea bietet ihr Kaffee und Kuchen an. Es wird seine Zeit dauern, bis die neue Bewohnerin sich hier eingewöhnt hat. Für niemanden ist es besonders leicht, ins Seniorenheim zu gehen. Manche sind schon seit mehr als zehn Jahren hier. Einige Zimmer sind mit persönlichen Möbeln eingerichtet, an den Wänden hängen Familienfotos. Eine Frau hat Porträts ihrer beiden Pudel aufgehängt.

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Nedelea hat eine Fortbildung in der Palliativpflege gemacht, sie ist häufig mit sehr schwierigen Situationen konfrontiert. Angehörige weinen oft vor ihr. Auch an der Pflegerin geht es nicht spurlos vorbei, wenn einer der Bewohner stirbt. Studien zeigen, dass Pfleger wegen der psychischen Belastung häufig krank sind. Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml will dagegen mit einem neuen Modellprojekt für Pflegekräfte etwas tun, das Entspannungseinheiten mit Seminaren zu Stresserkennung und -bewältigung kombiniert. In diesem Jahr profitieren davon allerdings nur etwa 100 Leute, das Programm soll aber ausgeweitet werden.

Im Altenheim der Caritas in Bischofswiesen können die Pfleger mit Seelsorgern sprechen, wenn die Belastung zu groß ist. Auf einem kleinen Tisch im Flur liegt ein Buch, in das die Todesanzeigen eingeklebt werden. Nedelea sagt: "Jeder Bewohner der stirbt, fehlt."

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