Kommunalwahl in Ingolstadt:Ein Lehrstück über die Arroganz der CSU-Macht

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Ingolstadt wurde 48 Jahre lang von der CSU regiert. Doch bald wird Christian Scharpf von der SPD ins Rathaus einziehen. Wie konnte das passieren?

Von Roman Deininger und Johann Osel, Ingolstadt

"Dass ich das noch erleben darf", sagt Manfred Schuhmann, das klingt abgedroschen, aber was soll er machen? Exakt das sei nun mal sein Gefühl. Schuhmann ist 78 Jahre alt und eine Ingolstädter Institution. Als er 1972 in den Stadtrat kam, nannten sie ihn den "roten Mani", in fünf Jahrzehnten hat sich der Sozialdemokrat den Respekt aller politischen Farben erworben. Gerade wurde er für eine neunte Amtszeit gewählt. Es wird die erste sein, die der Stadtrat Schuhmann nicht unter schwarzer Herrschaft zubringen muss.

Ingolstadt wurde 48 Jahre lang von Oberbürgermeistern der CSU regiert, und selbst politische Gegner würden nicht behaupten, dass es schlechte Jahre waren. Ingolstadt ist stürmisch gewachsen und sehr reich geworden. In Städterankings ließ sich die Audi-Stadt allenfalls von der VW-Stadt Wolfsburg abhängen. Klar, Autokrise und Dieselbetrug haben den Boom erst mal beendet. Aber der Stadt geht es gut, und wenn es den Leuten gut geht, werden Regierungen bestätigt. In Ingolstadt wurde der CSU-OB gerade krachend abgewählt. Wie konnte das passieren?

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Trotz einiger Erfolge schwindet im Freistaat die Bindungskraft der CSU, genau wie jene der SPD. Die Grünen können davon nur bedingt profitieren. Das liegt an einem altbekannten Manko.

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Bald wird Christian Scharpf von der SPD ins Rathaus einziehen, "die pure Freude", sagt Schuhmann. Und natürlich eine Sensation - aber dann auch wieder nicht. Weil da schon länger etwas ins Rutschen geraten ist. Der Fall der schwarzen Hochburg Ingolstadt ist ein bayerisches Lehrstück über die Arroganz der CSU-Macht.

Christian Lösel, 45, der abgewählte OB, hat die Stadt nach allgemeinem Konsens bestens aufgestellt für den wirtschaftlichen und technologischen Umbruch. Wer beobachtete, wie er am Rathausplatz ein - vorläufig nicht flugtüchtiges - Flugtaxi inspizierte, der sah ein Leuchten in seinen Augen. Seine Stärke wurde irgendwann zu seinem Problem. "Alles nur Zukunft, Zukunft, Zukunft, das hat der Bürger irgendwann nicht mehr verstanden", sagt Schuhmann. Lösel sei überzeugt, "dass alles im Leben mit Technik zu lösen ist". Vielleicht kann man sagen: Was Lösel an Kompetenz besitzt, fehlt ihm an Empathie.

Auf Lösels Wahlplakaten stand "Unser Christian", eine arg steile Anlehnung an den Parteifreund Peter Schnell, der Ingolstadt von 1972 bis 2002 mit einer Art Heiligenstatus regierte und nicht nur auf Plakaten als "Unser Peter" galt. Bei einer Podiumsdebatte der OB-Bewerber wurde Lösel nach dem Slogan gefragt; der 84-jährige Schnell saß im Publikum. Lösel erklärte sich umständlich, dann ergriff die Grünen-Kandidatin das Wort. Sie tat, was Lösel hätte tun müssen. Sie sah Schnell an und sagte, dass er bis heute "mein Peter" sei.

Die Abwesenheit aller Emotionalität bei Lösel fiel umso mehr auf, als Christian Scharpf die Ingolstädter Bühne betrat, der OB-Kandidat der SPD. Scharpf, 48, brachte als leitender Beamter im Münchner Rathaus ein gewisses Grundformat mit, er gab sich als Schanzer Anverwandter der pragmatischen SPD-OBs Christian Ude und Dieter Reiter. Vor allem aber schüttelte er Hände, "I bin der Christian", er machte in einem Wahlkampf mehr Small Talk als Lösel in seiner ganzen Karriere. Er streichelte die Ingolstädter Seele, ein Aufwand, den die CSU angesichts des breiten Wohlstands schon länger für überflüssig hielt.

Manfred Schuhmann sagt, die CSU habe "kulturbanausig" ganze Teile der Stadtgesellschaft verloren. Wo sie fremdelte, ging sie nicht mehr hin. Theaterpremieren, Vernissagen. Die SPD stieß in diese Lücke, es gab Lesungen im Wahlkampf, Kabarett mit Ude, "Ratschen im Ratschhaus". Es war nicht so, dass die CSU die Gefahr nicht erkannte. Sie fand nur keine Strategie gegen Scharpf. Zuerst spottete sie über den "Import aus München", der aber dummerweise in Ingolstadt aufgewachsen ist. Hernach reanimierte sie allen Ernstes Adenauer: "Keine Experimente jetzt!". In der Verzweiflung vor der Stichwahl tat sie mit einer Rote-Socken-Kampagne so, als würden die Cappuccinotrinker in den Altstadtcafés demnächst enteignet. Scharpf siegte mit 59,3 Prozent der Stimmen.

"Man hat alles versucht", sagt Hermann Regensburger, der gemeinsam mit Schuhmann 1972 in den Stadtrat gewählt wurde, er halt für die CSU. "Aber man kann eine Stimmung, die in fünf, sechs Jahren entstanden ist, nicht in fünf, sechs Wochen drehen." Regensburger, 79, war Landtagsabgeordneter, Staatssekretär und nicht zuletzt der Entdecker von Horst Seehofer. Dem Wahlkampf, so seine Analyse, habe ein Sachthema komplett gefehlt. Stattdessen habe die Opposition nur die emotionale Ebene bedient und "auf Biegen und Brechen versucht, Christian Lösel in die Affären seines Vorgängers hineinzuziehen".

Dieser Vorgänger Alfred Lehmann war zugleich Lösels politischer Ziehvater und Geschäftspartner, wohl auch deshalb hat Lösel viel zu lange gebraucht, sich zu distanzieren. Die Lehmann-Jahre, 2002 bis 2014, galten als glänzend, bis bei Ermittlungen um Vetternwirtschaft am kommunalen Klinikum herauskam, dass der OB stets auch das eigene Wohl fest im Blick gehabt hatte. Später hatte er Beraterverträge bei Bau- und Personalunternehmern angenommen - mit engem Bezug zur eigenen Stadt. Am Ende wurde er für sehr vorteilhafte Immobiliendeals wegen Korruption verurteilt, zwei Jahre auf Bewährung.

Natürlich war es dieser Skandal, der die Erosion der CSU-Herrschaft lostrat. Aber mindestens genauso schädlich war für die Partei, dass die Enthüllungen im Prozess gegen Lehmann bei vielen Ingolstädtern ein Misstrauen gegen das Machtgeflecht der CSU weckten oder bestätigten.

Die Stadt bin ich, so hatte sich Lehmann das eingerichtet. Im Prozess wurde der Jurist einer städtischen Tochtergesellschaft gefragt, warum er Änderungen durch den OB an einem Bauprojekt durchgewunken habe. Antwort: Der "Chef" brauche ihm "Anweisungen nicht zu begründen". Immer wieder hörte man das: Es sei Argument genug gewesen, wenn am Telefon die Nummer des OB-Büros aufleuchtete.

Lehmanns These, die Stadt sei am effizientesten als "Bürgerkonzern" mit einem Manager im Rathaus zu führen, erscheint deshalb manchen mittlerweile in einem ganz anderen Licht: Die exzessive Auslagerung von Zuständigkeiten in städtische Tochter-GmbHs erschwert natürlich die Kontrolle durch den Stadtrat. Eine Stadt als Konzern, diese Idee musste nun als diskreditiert gelten. Lösel pochte darauf, er habe sich persönlich nichts zuschulden kommen lassen - und führte das System einfach fort. Auch dabei fehlte ihm die Empathie für die Sorgen vieler Bürger.

Lösel steht seit 2014 freilich nicht allein an der Spitze der Ingolstädter CSU, er ist Teil eines Führungstrios. Da ist der Bürgermeister Albert Wittmann, der in der Politik so dominant auftritt wie früher als Oberstleutnant bei der Bundeswehr. Und da war bis 2019 der CSU-Kreischef Hans Süßbauer, Kriminalbeamter, alte Schule auch er. Die Drei verströmten das Selbstbewusstsein einer 60-Prozent-Partei, als die CSU schon längst eine 40-Prozent-Partei war. 2019 wurde Süßbauer vom Landtagsabgeordneten Alfred Grob abgelöst; die Meinungen, ob dieser für einen Kulturwandel steht, gehen in der CSU auseinander.

"Die kleine Führungsspitze in der CSU hat alles selbst entschieden"

Dass SPD-Kandidat Scharpf ein breites Bündnis anderer Parteien hinter sich versammeln konnte, hat jedenfalls wesentlich mit deren Ärger über die "Basta-Politik" der CSU zu tun. Kurz vor Weihnachten 2019 hatte eine kleine Episode im Sozialausschuss verheerende Außenwirkung: Lösel setzte, formal irgendwie korrekt, den Parteifreund Wittmann als Vorsitzenden ein, um die Mehrheit für eine umstrittene Personalie zu bekommen. Auf Kritik an diesem Stil - von der Opposition freilich auch nicht immer formvollendet vorgetragen - reagierte die CSU stets beleidigt. Als Manfred Schuhmann, Träger eines imposanten weißen Vollbarts, mal in einer Rede fragte, ob Lösel als Affären-Aufklärer "leicht überfordert" sein könnte, wurde er von der Familie Lösel nicht mehr als Nikolaus für die Kinder gebucht.

Kritiker einzubinden, das hat die CSU-Spitze nie ernsthaft versucht. Auch in der eigenen Partei nicht. "Die kleine Führungsspitze in der CSU hat alles selbst entschieden", sagt Hermann Regensburger. "Der Rest der Partei hat das meistens treu akzeptiert. Die CSU ist dadurch träge geworden." Ein CSU-Mann spricht von einer "völligen Entrücktheit" des Trios um Lösel, das weder Widerspruch noch Rat akzeptiert habe. Übrigens offenbar nicht mal von einem ehemaligen Ministerpräsidenten aus Ingolstadt. Die Partei habe "gute junge Leute en masse verloren, weil es null Chance zur Mitwirkung gab". Viele hätten bei Lösel und Co den Willen zu echter Gestaltung und mutige Ideen vermisst.

Eine Woche nach der Katastrophe in der Stichwahl drängt sich der Eindruck auf, als würde sich die alte Garde an das bisschen Macht klammern, das der CSU bleibt. Ihren Abschied angekündigt hat nur eine, die noch am wenigsten für die Situation kann: Patricia Klein, die junge Fraktionschefin im Stadtrat.

Hermann Regensburger sagt: "Ich hoffe, dass die Partei jetzt wieder aktiver wird und unsere guten Leute auch in der Breite zur Geltung kommen." Hoffnung zieht er aus der Geschichte. Als er mit der Politik begann, lag die CSU schon einmal am Boden. 1966 hatte der SPD-Mann Otto Stinglwagner die OB-Wahl gewonnen. "Man hat uns auf 25 Jahre hinaus abgeschrieben", sagt Regensburger. Doch die Niederlage habe "unglaubliche Kräfte" freigesetzt, bei einer neuen CSU-Generation um Schnell und Seehofer. "Nach sechs Jahren haben wir wieder den OB gestellt." Regensburger weiß indes, dass beim Comeback 1972 viel zusammenkam: das Ausnahmetalent Peter Schnell und der überraschende Verzicht des beliebten SPD-Amtsinhabers auf eine zweite Kandidatur. Mit Glück von solch epischem Ausmaß wird die CSU eher nicht noch einmal rechnen können.

© SZ vom 04.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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