Coronavirus in Bayern:"Schutzmasken sind keine Maulkörbe"

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Landtagspräsidentin Ilse Aigner bei einer Debatte über Corona. (Foto: imago)

Ilse Aigner hat lange zur Corona-Krise geschwiegen. Nun spricht die Landtagspräsidentin über Föderalismus und Demokratie.

Von Andreas Glas und Lisa Schnell, München

Ilse Aigner hat zuletzt getan, was eine Landtagspräsidentin tun muss. Sie hat sich darum gekümmert, dass das Parlament in der Krise ein einigermaßen funktionierendes Parlament bleibt. Weniger Abgeordnete in Plenum und Ausschüssen, weniger Zwischenfragen, mehr Abstand zwischen den Stühlen. All das hat Aigner (CSU) organisiert, alles abgestimmt mit den Fraktionen. Sie hat viel getan, damit die Corona-Krise nicht automatisch zur Krise der Demokratie wird. Aber gesagt hat sie wenig, jedenfalls wenig, was als Beitrag zur Krisendebatte gelten könnte.

Sieben Wochen nachdem Bayern den Katastrophenfall ausgerufen hat, spricht die Landtagspräsidentin nun erstmals grundsätzlich über die Corona-Krise und darüber, was diese Krise für die Demokratie bedeutet. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung stellt sich Aigner hinter den Kurs der Staatsregierung - verteidigt aber auch Stimmen aus Opposition und Medien, die diesen Kurs "in sachlichen Debatten" infrage stellen und Lockerungen der Corona-Maßnahmen fordern. "Die Kritiker des eingeschlagenen Wegs sollten nicht als Egoisten abgestempelt werden, und die Befürworter sind nicht obrigkeitshörig", sagt Aigner. "Jeder soll seine Meinung äußern, denn Schutzmasken sind keine Maulkörbe." Nur eine offene Debatte könne verhindern, "dass sich der Irrglaube verfängt, Corona sei eine Verschwörung mit dem Ziel, nach 75 Jahren eine neue Diktatur zu errichten."

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Die Erinnerung an die Nazi-Diktatur ist gerade wieder sehr präsent, auch für die Landtagspräsidentin. In Dachau und Flossenbürg hat Aigner kürzlich der Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten vor 75 Jahren gedacht. Sie hat Kränze niedergelegt und gemahnt, dass sich Verbrechen wie die der Nazis nicht wiederholen dürften. Auch in der Corona-Krise gehe es um die Frage, "was die Würde des Menschen wert ist", sagt Aigner. Man kann das als Anspielung verstehen auf Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der sagte, dass der Schutz der Menschenwürde nicht ausschließe, "dass wir sterben müssen". Ilse Aigner warnt: "In der Frage von Leben und Tod könnte in einem überforderten Gesundheitswesen sehr schnell die Würde des Menschen auf dem Spiel stehen."

Was sie meint: Dass es würdelos wäre, wenn Ärzte wegen fehlender Intensivbetten oder Beatmungsgeräte darüber entscheiden müssten, dass der eine Patient die maximale Therapie bekommt - und der andere nur Hilfe beim Sterben. "Bei uns ist jeder Mensch gleich viel wert. Um jeden einzelnen wollen wir kämpfen: um die Vorerkrankten, um die Alten, um die Jungen", sagt Aigner. "Das unterscheidet uns von der völkisch-rassistischen Ideologie der Nazis."

Wenn Aigner nun dafür plädiert, den politischen Kurs in der Corona-Krise "jeden Tag aufs Neue" zu prüfen, das "Tempo zu beschleunigen oder auch einen Schritt zurück zu machen", um das Gesundheitssystem nicht zu überfordern, dann darf man das gewiss so deuten, dass Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und die Staatsregierung aus ihrer Sicht vieles richtig machen. Nur sagt Aigner das natürlich nicht so explizit. Ihre Rolle als Landtagspräsidentin verlangt Neutralität und Überparteilichkeit.

Es ist also nicht ungewöhnlich, dass Aigner auch den Oppositionsparteien den Rücken stärkt. Mancher fragt sich allerdings, wieso sich die Landtagspräsidentin erst jetzt in die Debatte einmischt. Ihre Rolle als Mahnerin in Sachen Demokratie und Grundrechten hat Aigner den Abgeordneten jenseits von CSU und Freien Wählern zuletzt vor allem selbst überlassen - obwohl auch Aigner bemerkt haben dürfte, wie schwer es ist, gegen einen Ministerpräsidenten durchzudringen, dem es ziemlich gut gelingt, eine Bühne so zu besetzen, dass für andere kaum etwas vom Scheinwerferlicht übrig bleibt.

Dabei hat die Opposition zuletzt allerhand kritisiert: die langen Kita-Schließungen, das Hin und Her bei der Maskenpflicht, die 800-Quadratmeter-Grenze für Geschäfte. Hätte sich die Landtagspräsidentin besser früher eingeschaltet? "Meine vordringliche Aufgabe ist, dass der Parlamentsbetrieb funktioniert", sagt Aigner. Nur so könnten "die Oppositionsrechte auch gewahrt bleiben". Die politische Debatte sei "Aufgabe der Parteien", nicht der Landtagspräsidentin.

Was Aigner noch beschäftigt: "eine merkwürdige Föderalismus-Diskussion" um die Frage, warum die Bundesländer bei ihren Krisenstrategien teils sehr unterschiedlich agieren. Wer jetzt "von einem Flickenteppich spricht, macht sinnvolle, regional angepasste Lösungen verächtlich", sagt Aigner. "Wo man trotz Gemeinsamkeiten unterschiedliche Wege geht, kann der Vergleich für die Suche nach dem besten Weg lehrreich und hilfreich sein. Das ist keine Schwäche, sondern die Stärke unseres Föderalismus." Ein Blick auf andere, zentralistisch regierte Staaten zeige, "dass die Bundesrepublik in dieser Pandemie sehr gut funktioniert".

Es gehe darum, geduldig zu bleiben, sagt Ilse Aigner - was definitiv eher nach Ministerpräsident Markus Söder klingt als nach Opposition. Sie könne verstehen, dass sich viele Menschen "nach einfachen Wahrheiten" sehnten, nach einem "Fahrplan" in der Krise. "Aber verantwortungsvolle Politik muss sie enttäuschen", sagt Aigner, "ein Virus hält sich nicht an Fahrpläne."

© SZ vom 05.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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