Reaktionen auf Flugblatt:Söder lässt Aiwanger vorerst im Amt - und fordert Antworten

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Nicht "bloß ein Jungenstreich oder eine Jugendsünde": Ministerpräsident Söder über das hetzerische Flugblatt. (Foto: Leonhard Simon/Reuters)

Die Erklärungen, die der Freie-Wähler-Chef bisher zu dem Flugblatt aus seiner Schulzeit gegeben habe, reichten nicht aus, sagt der Ministerpräsident bei einem Pressestatement. Man habe Aiwanger einen Katalog aus 25 Fragen überreicht, deren Beantwortung der Wirtschaftsminister zugesagt habe.

Von Oliver Klasen

Wie geht es weiter in der bayerischen Regierung? Seit dem Vormittag tagte in München der Koalitionsausschuss, anschließend das Kabinett. Ministerpräsident Markus Söder hatte eine Sondersitzung angesetzt, er hatte seinen Vize Hubert Aiwanger und die Freien Wähler "einbestellt". Die entscheidende Frage lautete: Akzeptiert die CSU die Erklärungen Aiwangers zu einem antisemitischen Flugblatt, das im Schuljahr 1987/88 in seiner Schultasche gefunden wurde?

Um kurz nach zwölf Uhr am Mittag erschien Söder zu einem Pressestatement - allein, ohne Aiwanger. Das Flugblatt sei "ekelhaft und widerlich", es sei "übelster Nazi-Jargon", sagte er. Es sei nicht "bloß ein Dummer-Jungen-Streich oder eine bloße Jugendsünde". Allein der bloße Verdacht beschädige das Ansehen Bayerns und die persönliche Glaubwürdigkeit des bayerischen Wirtschaftsministers.

Die Erklärungen, die Aiwanger bisher zu der Angelegenheit gegeben habe, auch die Aussagen in der Sondersitzung, seien nicht umfassend genug, um die Vorwürfe zu entkräften, so Söder. "Es blieben und bleiben viele Fragen offen". Man werde von ihm eine schriftliche Klärung der Vorwürfe einfordern, Aiwanger habe zugesagt, 25 diesbezügliche Fragen rasch zu beantworten. Er habe auch sein Einverständnis erklärt, dass möglicherweise noch vorhandene Schulakten geöffnet würden.

Auf der anderen Seiten reichten die Recherchen der Süddeutschen Zeitung allein nicht aus, um eine Entlassung Aiwangers zu rechtfertigen, so Söder. Dort hätten sich bislang nur anonyme Quellen geäußert. Als Ministerpräsident müsse er "vernünftig entscheiden" und den "Sachverhalt fair, objektiv und seriös bewerten". Es dürfe keine Vorverurteilung geben, es dürften allerdings auch "keine Restzweifel" bleiben. Außerdem dürften keine neuen Vorwürfe mehr dazukommen.

Söder hatte - vor der Berichterstattung über das Flugblatt - stets gesagt, dass er die Koalition mit den Freien Wählern fortsetzen wolle. Am Montag, bei einem Wahlkampftermin in Landshut, betonte er erneut, dass er "eine bürgerliche Koalition in Bayern eindeutig behalten" wolle. Er strebe keine Staatsregierung an, an der die Grünen beteiligt seien. Das ist offenbar auch die Haltung in weiten Teilen der CSU. Söder betonte bei der Pressekonferenz erneut, dass die Zusammenarbeit mit den Freien Wählern "gut" sei.

Die Recherche rund um das Flugblatt

Aiwanger hatte am Samstag schriftlich zurückgewiesen, in seiner Schulzeit ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das die Süddeutsche Zeitung erstmals am Freitagabend berichtet hatte. Er habe "das fragliche Papier nicht verfasst" und erachte den Inhalt als "ekelhaft und menschenverachtend".

Der Freie-Wähler-Chef räumte allerdings ein, es seien damals "ein oder wenige Exemplare" in seiner Schultasche gefunden worden. Außerdem sei er in der Schule dafür bestraft worden. Das sei jedoch fälschlicherweise geschehen. Der wahre Verfasser des Papiers sei ihm bekannt und werde sich in Kürze selbst erklären.

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Seit Aiwangers Bruder gesagt hat, dass er der Verfasser des Auschwitz-Pamphlets gewesen sei, stellen sich noch mehr Fragen. Sollte es so sein: Warum hatte Hubert Aiwanger es dann in der Tasche, warum ließ er sich dafür bestrafen? Sicher ist: In Bayern gerät dadurch jetzt vieles ins Wanken.

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Eine Stunde später meldete sich Aiwangers Bruder Helmut und bekannte sich als Verfasser. Zur Begründung, dass er das Flugblatt geschrieben habe, sagte er in den Zeitungen der Mediengruppe Bayern: "Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war."

Am Montag darauf äußerte sich der Bruder des Ministers erneut. Dieses Mal ging es um das Verhalten Hubert Aiwangers zu jener Zeit. Angesprochen auf die Frage, warum dieser die Flugblätter in seiner Schultasche gehabt habe, sagte Helmut Aiwanger, sein Bruder Hubert habe womöglich damals die Flugblätter wieder eingesammelt, um zu "deeskalieren".

Ein Schriftgutachten im Auftrag der SZ war zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Facharbeit Aiwangers und das belastende Flugblatt "sehr wahrscheinlich auf ein und derselben Schreibmaschine geschrieben worden sind".

Bevor sich Aiwanger am Samstag schriftlich zur Angelegenheit äußerte, hatte er auf mehrfache Anfragen stets bestritten, mit dem Flugblatt in Verbindung zu stehen. Bis zur ersten Veröffentlichung am Freitag hat die Süddeutsche Zeitung binnen elf Tagen drei Mal bei Aiwanger angefragt. Die SZ konfrontierte den Minister unter anderem konkret mit dem Fund in der Schultasche und der Bestrafung, basierend auf den Erinnerungen mehrerer Zeugen.

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Es gibt darüber hinaus Hinweise darauf, dass die Angelegenheit nicht erst jetzt nach 35 Jahren erstmals wieder auftauchte, sondern dass das Flugblatt im Umfeld Aiwangers in der Vergangenheit bereits zweimal Thema war - weit vor der SZ-Veröffentlichung.

Bereits 2008, dem Jahr, als die Freien Wähler zum ersten Mal in den Bayerischen Landtag einzogen, soll eine Abgeordnete im Auftrag Aiwangers ausgekundschaftet haben, ob aus der Geschichte noch Ärger zu befürchten sei. Sie soll dazu einen ehemaligen Lehrer besucht haben, der am Burkhart-Gymnasium Mallersdorf-Pfaffenberg unterrichtete, wo die Aiwanger-Brüder seinerzeit zur Schule gingen. Weder die Abgeordnete noch Aiwanger äußern sich dazu. Die Abgeordnete soll vor Kurzem dann noch ein zweites Mal nachgefragt haben.

Der Lehrer habe 2008 erklärt, er gehe von einer "Jugendsünde" aus und sehe keinen Grund, die Disziplinarmaßnahme gegen Hubert Aiwanger öffentlich zu machen. Er änderte seine Meinung jedoch nach Aiwangers Rede gegen das Heizungsgesetz im Juni in Erding. Damals forderte der Minister, dass sich die "große schweigende Mehrheit" die "Demokratie wieder zurückholen" müsse. Diese Rede, so der Lehrer, habe ihn bewogen, zu den Ereignissen um das Flugblatt nicht länger zu schweigen. Der Mann ist eine von mehreren Quellen, die die Recherchen der SZ übereinstimmend bestätigen.

Die Situation vor der Landtagswahl und die Reaktion der Opposition

In Bayern wird am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt. Die letzten Umfragen, die jedoch sämtlich ebenfalls vor Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Aiwanger erhoben wurden - deuten darauf hin, dass CSU und Freie Wähler eine stabile Mehrheit bekommen könnten. In einer von der Süddeutschen Zeitung bei Forsa in Auftrag gegebenen Wählerbefragung Anfang August kam die CSU auf 39 Prozent. Die Freien Wähler lägen demnach gleichauf mit den Grünen bei 14 Prozent, die AfD kommt auf 13, die SPD auf neun Prozent. FDP und Linke würden an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern.

Grüne, SPD und FDP wollen, ungeachtet von Söders Kritik an Aiwanger und dem Fragenkatalog, eine Sondersitzung im bayerischen Landtag beantragen. "Die schwerwiegenden Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger sind keine exklusive Sache zwischen CSU und Freien Wählern", sagte FDP-Fraktionschef Martin Hagen. Die Angelegenheit betreffe ganz Bayern und dürfe nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann ergänzte: "Söder duckt sich weg. Anstatt Konsequenzen zu ziehen, will er lieber weiter mit einem Stellvertreter regieren, der größte Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung hinterlässt." Das schade dem Ansehen des Landes.

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