Amnesty in der Türkei:"Unsere Arbeit wird als Straftat angesehen"

Amnesty in der Türkei: Den Jahrestag des Putschversuchs hat Präsident Erdoğan zum Nationalfeiertag erklärt. Gegen vermeintliche Unterstützer der Putschisten geht er hart vor.

Den Jahrestag des Putschversuchs hat Präsident Erdoğan zum Nationalfeiertag erklärt. Gegen vermeintliche Unterstützer der Putschisten geht er hart vor.

(Foto: AFP)

Kann man als Menschenrechtsorganisation in der Türkei noch arbeiten? Andrew Gardner von Amnesty International über die Festnahmen seiner Kollegen.

Interview von Veronika Wulf

Gegen sechs Menschenrechtsaktivisten hat ein türkischer Staatsanwalt am Montag Untersuchungshaft verhängt. Unter den Festgenommenen ist der deutsche Menschenrechtstrainer Peter Steudtner und die Türkei-Direktorin von Amnesty International İdil Eser. Die Aktivisten hatten vor knapp zwei Wochen einen Workshop besucht, den Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan beim G-20-Gipfel in Hamburg als "eine Fortsetzung des 15. Juli" bezeichnete. Damit wirft er den Aktivisten indirekt eine Nähe zu den Putschisten vom vergangenen Jahr vor.

Andrew Gardner, 40, ist Forschungsmitarbeiter für Amnesty International in der Türkei. Seit 2013 beobachtet er für die Organisation von Istanbul aus die Menschenrechtslage und berichtet darüber. Mit Sorge sieht er, wie Kollegen verhaftet werden und die türkische Regierung NGOs die Arbeit erschwert.

SZ: Was wird ihren Kollegen vorgeworfen?

Andrew Gardner: Unserer Direktorin İdil Eser und den anderen fünf Workshop-Teilnehmern wird vorgeworfen, eine terroristische Organisation zu unterstützen - welche ist unklar. Tatsächlich aber haben sie einen völlig routinemäßigen Workshop über Informationssicherheit besucht, wie er in der Türkei ständig abgehalten wird, nicht nur von NGOs, sondern auch von Unternehmen und anderen Menschen.

Wie geht es jetzt weiter?

Es ist noch nicht sicher, wie lange İdil Eser und die anderen in Untersuchungshaft bleiben müssen. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass es bei dieser Art von Fällen unter dem Terrorismusgesetz gut neun Monate oder mehr dauern kann, bis ein Prozess beginnt. So lange bleiben sie in Haft. Das ist eine sehr schockierende und negative Entwicklung. Wir hatten damit gerechnet, dass sie freigelassen werden.

Amnesty in der Türkei: Andrew Gardner lebt seit vielen Jahren in der Türkei und verfolgt Menschenrechtsverletzungen für Amnesty International.

Andrew Gardner lebt seit vielen Jahren in der Türkei und verfolgt Menschenrechtsverletzungen für Amnesty International.

(Foto: AFP)

Sind Sie in Kontakt mit İdil Eser?

Leider hatten wir nicht die Möglichkeit, İdil zu sehen, seit sie am 5. Juli plötzlich festgenommen wurde. Nur ihren Anwälten ist der Kontakt erlaubt. Die haben uns auch in Echtzeit Informationen von der offiziellen Anhörung durch den Staatsanwalt am Montag weitergegeben, bei der wir leider nicht dabei sein durften.

İdil Eser ist nicht die Erste von Amnesty International in der Türkei, die festgenommen wurde.

Nein. Am 9. Juni wurde unser Türkei-Vorsitzender Taner Kılıç in Untersuchungshaft genommen. Grund dafür war die falsche Behauptung, er hätte die Messenger-App Bylock heruntergeladen, von der die Behörden glauben, dass sie von der Gülen-Bewegung verwendet wird. Taner bestreitet das und die Vorwürfe wurden nie belegt. Das ist das Problem des heutigen Justizsystems in der Türkei: Man muss seine Unschuld belegen - die Behörden hingegen müssen keine Schuld beweisen. Das ist genau falschherum. Und es ist wieder mal ein Beispiel dafür, in welche verstörende Richtung sich die Strafverfolgung in diesem Land entwickelt.

Ist es noch möglich, als NGO in der Türkei zu arbeiten?

Es ist sehr schwierig geworden. Einige NGOs wurden geschlossen, darunter die führende Kinderrechtsorganisation in der Türkei. Anderen wird die Arbeit durch Ermittlungen erschwert, einzelne Personen werden strafrechtlich verfolgt. Es gibt lang anhaltende Prozesse gegen Aktivisten, weil sie Solidarität mit der kurdischen Zeitung Ozgur Gundem gezeigt haben. Die Journalisten der Zeitung und alle, die Solidarität zeigen, müssen noch immer mit Gefängnisstrafen rechnen. Der langjährige Menschenrechtsaktivist Murat Çelikkan bekam beispielsweise 18 Monate Haft. Dem Vorsitzenden der Nationalen Menschenrechtsorganisation wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Er hat bis zu zehn Jahre Gefängnis zu befürchten.

Hat sich die Situation für NGOs seit dem Putsch-Versuch vor einem Jahr verschlimmert?

Sie hat sich bereits 2015 verschlechtert, mit der Rückkehr der Gewalt, durch die PKK, durch staatliche Kräfte und durch einen massiven Anstieg bewaffneter Kämpfe, besonders im Südosten der Türkei. Doch seit dem Putschversuch ist es nochmal deutlich schlimmer geworden, sowohl was die Menschenrechte angeht, als auch die Arbeit der NGOs. Es gab einen riesigen Anstieg an gemeldeten Fällen von ungerechtfertigten Klagen, Verhaftungen, Folter und Überbelegung in Gefängnissen. Mehr als 130 Journalisten sind in Haft, fast 90 000 Beamte wurden entlassen. Wo man nur hinschaut, wurden Rechte beschnitten, die Redefreiheit, friedliche Proteste, die Möglichkeit, dass Leute sich organisieren.

Auf welche Schwierigkeiten sind Sie bei Ihrer Arbeit gestoßen?

Wir wurden beispielsweise daran gehindert, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen an einem bestimmten Ort im überwiegend kurdischen Südosten des Landes, wo eine Ausgangssperre gegen die Bevölkerung verhängt worden war. Außerdem überzogen uns die Behörden in der Folge des Putschversuchs mit unfairer, unwahrer Kritik über unsere Arbeit. Sie griffen unsere Ergebnisse und unsere Recherchemethoden an, was jene Medien verbreiteten, die für ihre engen Beziehungen zur Regierung bekannt sind. Es gab sogar Anschuldigungen, wir hätten die Putschisten unterstützt. In diesem Zusammenhang ist auch unser Vorsitzender Taner Kılıç festgenommen worden.

Haben Sie Angst, selbst festgenommen zu werden?

Ich glaube, wenn Menschenrechtsaktivisten festgenommen werden, weil sie an einem regulären Workshop teilgenommen haben, dann ist das ein Zeichen dafür, dass es als Straftat angesehen wird, die Menschenrechte zu verteidigen. Das stellt eine existentielle Bedrohung nicht nur für Amnesty International, sondern generell für Menschenrechtsbewegungen in der Türkei dar. Wir haben auch Drohungen bekommen nach den falschen Anschuldigungen. Aber wir werden deshalb sicher nicht aufgeben.

Was unternehmen Sie nun?

Seit dem Putschversuch ist unser Büro an einen sichereren Ort umgezogen. Um nicht abgehört zu werden, haben wir Sicherheitsvorkehrungen, die Amnesty International weltweit nutzt, wie das auch Regierungen und Unternehmen tun. Nicht nur, um uns selbst zu schützen, sondern vor allem, um die Leute zu schützen, die uns Menschenrechtsverletzungen melden, wie Überlebende, deren Familien, deren Anwälte.

Sind die Geschehnisse in der Türkei vergleichbar mit denen eines anderen Landes?

Nein, das haben wir noch nie erlebt. Nie waren sowohl der Direktor als auch der Vorsitzende einer unserer Landesvertretungen gleichzeitig inhaftiert, in keinem einzigen Land, in dem wir arbeiten rund um den Globus. Und natürlich werden wir so lange gegen die unrechtmäßigen, willkürlichen, missbräuchlichen Festnahmen kämpfen, bis die Inhaftierten wieder frei sind.

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