Gaucks Linken-Warnung bei Anne Will:"SED-Erbe als Regierungschef ist ein Quantensprung"

Anne Will

SED-Debatte nach Gauck-Äußerungen: Anne Will und Edmund Stoiber (CSU)

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Die Warnung von Bundespräsident Gauck vor einem linken Ministerpräsidenten in Thüringen hat eine heftige Debatte ausgelöst. Bei Anne Will liefern sich junge und alte Kontrahenten dazu einen aufschlussreichen Schlagabtausch.

TV-Kritik von Markus C. Schulte von Drach

Wer Joachim Gaucks Vergangenheit und seine Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur vor, während und nach deren Ende verfolgt hat, den konnte sein Kommentar zu einer möglichen rot-rot-grünen Koalition in Thüringen nicht überraschen. "Ist die Partei, die da den Ministerpräsidenten stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können?"

Gauck hat damit eine heftige Debatte ausgelöst, der Anne Will ihre Sendung gewidmet hat. "Streit um ersten linken Ministerpräsidenten - ist Deutschland schon so weit?" fragt sie. Und führt damit ein wenig in die Irre. Denn ihre Gäste beschäftigen sich dann vor allem mit zwei anderen, besseren Fragen: Darf ein Bundespräsident sich auf diese Weise in die Politik einmischen? Und wie weit hat sich die Partei Die Linke von ihrer Vorgängerin SED gelöst, die in der DDR-Diktatur die Macht ausübte?

Gauck selbst hat deutlich gezeigt, dass er das Amt des Bundespräsidenten nicht so ausüben will, wie es seine Vorgänger getan haben. Die hatten sich aus dem politischen Tagesgeschäft weitgehend ferngehalten. Der protestantische Theologe aber orientiert sich deutlich an der Haltung des ersten Protestanten Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms: "Hier stehe ich und kann nicht anders."

Und so äußert er Kritik freimütig, wann immer es ihn dazu drängt. Am türkischen Präsidenten Erdoğan; am russischen Präsidenten Putin; an rechtsradikalen "Spinnern". Edmund Stoiber, ehemals bayerischer Landesvater, äußert in Wills Sendung großes Verständnis für Gauck. Er setze deutliche Zeichen, belebe die politische Diskussion und lege den Finger in die Wunde. "Es ist ein Glücksfall, dass wir diesen Bundespräsidenten haben." Selbst dass Gauck mit seinem Kommentar einen Einfluss auf die Regierungsbildung in Thüringen nimmt, hält der ehemalige CSU-Chef für unproblematisch. "Da kann der Bundespräsident keine Rücksicht nehmen."

Das sieht Oskar Lafontaine, ehemals SPD-Parteichef, nun Fraktionsvorsitzender der Linken im saarländischen Landtag, völlig anders. Dass Gauck es in Ordnung findet, wenn ein ehemaliger ostdeutscher Pfarrer Bundespräsident werden kann, aber etwas gegen einen westdeutschen Gewerkschaftler und bekennenden Christen als Ministerpräsidenten habe - er meint den Spitzenkandidaten der Linken in Thüringen, Bodo Ramelow -, das beschäftige ihn. Eigentlich müsse Gauck sich doch darüber freuen, dass jemand aus dem Westen, der nicht belastet ist, Christine Lieberknecht (CDU) ablöst, eine Landeschefin, die in der DDR in der CDU-Blockpartei war.

Anke Domscheit-Berg, als Studentin in der Opposition in der DDR, dann Mitglied bei Bündnis90/Die Grünen und der Piratenpartei, kritisiert den Zeitpunkt von Gaucks Äußerung: "Der Bundespräsident sollte insofern neutral sein und als Bundespräsident aller Deutschen keinen direkten Einfluss auf Wahlentscheidungen nehmen." Faktisch sei es eine Wahlempfehlung gewesen. Darüber hinaus spricht Lafontaine dem Bundespräsidenten kurzerhand auch noch ab, überhaupt ein Bürgerrechtler gewesen zu sein.

Ehrabschneidende Behauptung, verlogene Debatte

Das verärgert Stephan Hilsberg, selbst Bürgerrechtler in der DDR und Gründungsmitglied der Ost-SPD (SDP). Ehrabschneidend sei das, was Lafontaine sage. Er hält die Äußerungen Gaucks für völlig in Ordnung: Der Bundespräsident mache sich Sorgen um die Demokratiefähigkeit der Linkspartei, weil diese aus der SED entstanden sei. Und die SED verkörpere das gesamte Unrecht in der DDR, wie Mauer, Überwachung, Schießbefehl. Die Ost-CDU war zwar Kollaborateurin, weshalb es eine schwere Belastung für den Demokratieprozess gewesen sei, als Bundeskanzler Helmut Kohl sie zum Partner gemacht hat. Doch eine Gleichsetzung rechtfertige das noch lange nicht.

Diese Debatte kritisiert Domscheit-Berg als verlogen. Schließlich gab es auch in der Ost-CDU zum Beispiel Politiker wie Andreas Trautvetter, einen ehemaligen Unteroffizier bei den Grenztruppen. In Thüringen übernahm er nach der Wende nacheinander mehrere Ministerämter, darunter Verkehrsminister, Staatskanzleiminister und sogar Innenminister. "Er war Chef einer Behörde, deren Mitarbeiter er wegen seiner Vergangenheit gar nicht hätte werden dürfen", so Domscheit-Berg. Mit Henry Worm sitze auch ein ehemaliges SED-Mitglied für die CDU im Landtag. Und Marion Walsmann habe als Abgeordnete der Ost-CDU in der Volkskammer 1989 eine Solidaritätsadresse wegen des Tiananmen-Massakers in China mit unterschrieben. Allerdings keine Solidaritätsadresse mit den Ermordeten, sondern mit der chinesischen Regierung. Insgesamt, so Domscheit-Berg, seien "500 000 Blockflöten übernommen worden, und keiner hat ihre demokratische Legitimation in Frage gestellt".

Für Edmund Stoiber aber bleibt klar, dass die Linke die Erbin des Erblassers sei - er meint die SED. Und wenn in Thüringen jetzt "der Erbe den Regierungschef stellt, dann ist das ein Quantensprung. Und ich bleibe dabei: Ich halte das für unmöglich."

Unrechtsstaat ja oder nein?

Es war klar, dass die Diskussionsteilnehmer ihre Meinungen kaum ändern würden. Aufschlussreich ist das Gespräch trotzdem, weil es zeigt, welche unterschiedlichen Facetten die Partei Die Linke aufweist. Denn einerseits stimmt, was Hilsberg kritisiert: Die Partei habe keinen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit vollzogen. Sie sei Rechtsnachfolgerin und habe das gesamte Personal und die gesamten Finanzen übernommen. "Natürlich ist sie heute eine pluralistische Partei", räumt er ein. "Aber an vielen Stellen kann man die ehemalige SED noch erkennen." Etwa beim Umgang mit der Geschichte der DDR, bei der Haltung gegenüber Putin und bei dem Ziel, die Nato zu zerschlagen.

Lafontaine dagegen weist zurecht darauf hin, dass er als Vorsitzender mit der SED viel weniger zu tun gehabt habe als die Ost-CDUler. "Es gibt die SED schon lange nicht mehr", sagt er. Außerdem sei die Linke und zuvor die PDS schon an einigen Landesregierungen beteiligt gewesen - ohne unverantwortlich gehandelt zu haben. "Abgestandener Kaffee" seien die Vorwürfe gegen seine Partei.

Domscheit-Berg empfindet es sogar als Verharmlosung von DDR-Unrecht, wenn die Linke heute mit der SED gleichgesetzt wird. Dann weist sie auf einen interessanten Punkt hin. Sie sei aufgrund der Aktivitäten der Stasi "äußerst sensibel, was Überwachung angeht". Und sie hat beobachtet, dass ausgerechnet die Linke die einzige Partei ist, "die im Bundestag noch nie einem verfassungswidrigen Überwachungs- und Sicherheitsgesetz zugestimmt hat".

Unrechtsstaat oder nicht?

Schließlich widmet sich die Runde noch der Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Viele Menschen im Osten wehren sich gegen dieses Urteil. Das rührt Hilsberg zufolge vor allem daher, dass ehemalige Bürger der DDR sich angegriffen fühlen, obwohl sie gar nicht gemeint sind. Er hält das für einen Propagandaerfolg der Linkspartei, die sich ihm zufolge dagegen sperrt, die Geschichte des Staates aufzuarbeiten. Er selbst jedenfalls habe die DDR eindeutig als Unrechtsstaat und als totalitär wahrgenommen. Stoibers Urteil ist ebenfalls eindeutig. Lafontaine dagegen redet um die Frage herum, als wolle er auf die Befindlichkeit nostalgischer Ostdeutscher Rücksicht nehmen. Dabei haben sich die drei möglichen Koalitionspartner in Thüringen, Linke, SPD und Grüne, bereits darauf geeinigt, dass man von einem Unrechtsstaat sprechen könne. Das aber, so kritisiert Hilsberg, habe der mögliche zukünftige Ministerpräsident Bodo Ramelow dann wieder als Protokollnotiz abgewertet.

Ein interessanter Gedanke von Edmund Stoiber führt die Diskussion schließlich noch zu weiteren wichtigen Fragen: Wie kann es sein, dass Bündnis 90/Die Grünen, in denen ein Teil der Bürgerrechtsbewegung aufgegangen ist, eine Koalition ausgerechnet mit der Nachfolgepartei der SED eingehen? Darauf hat Domscheit-Berg, die selbst im Neuen Forum engagiert war, eine Antwort. Sie wären damals auf der Straße gewesen, aber sie hätten sich nicht dem Kapitalismus anschließen wollen. "Was wir gesehen haben, war die soziale Marktwirtschaft. Heute sehen wir Hartz IV, Mindestlohn ..."

Auch Lafontaine weist auf die soziale Lage als Ursache für den Wahlerfolg seiner Partei und den Absturz der SPD in Thüringen hin. Stoiber und Hilsberg würden die Welt schönreden. Lafontaine, kontert Hilsberg, würde dagegen die sozialen Leistungen der rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder madig machen. Er und Stoiber zeigen sich sehr zufrieden mit der Entwicklung in Deutschland. Doch "wenn das so toll war, warum steht die SPD dann heute bei jämmerlichen 25 Prozent" in Deutschland, fragt Lafontaine. Und warum gehen immer weniger Menschen zur Wahl?

Eine gute Diskussion zeichnet sich schon dadurch aus, dass viele Argumente ausgetauscht werden können. Deshalb war diese Sendung von Anne Will tatsächlich etwas mehr als eine Talkshow. Und das will etwas heißen.

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