Das Grab unterschied sich eigentlich kaum von den anderen. In Havor auf Gotland hatten Menschen vor etwa einem Jahrtausend eine 55 bis 60 Jahre alte Frau bestattet. Die Tote lag auf dem Rücken, knapp einen Meter tief unter einem flachen, aber ausgedehnten Hügel. Sie trug Alltagskleidung und Schmuck, im Grab lagen Perlen, Ringe, zwei Messer und gleich vier mit Tierköpfen verzierte Fibeln. Als Archäologen das Grab öffneten, war vom Skelett der Frau wenig erhalten geblieben. Aber was war das nur für ein seltsamer Schädel?
Der Kopf der Frau war unnatürlich in die Länge gezogen. Offenbar waren ihr bereits als Säugling Bandagen um den Kopf gebunden worden, um ihren noch flexiblen Schädel in diese Form zu zwingen. Solche Bräuche sind unter anderem aus Südamerika überliefert, aus Zentralasien und Südosteuropa sowie aus Mitteleuropa in der Zeit der sogenannten Völkerwanderung im fünften und sechsten Jahrhundert nach Christus. Dutzende solche "Turmschädel" wurden auch in Bayern gefunden. Doch dass es diese Tradition auch in Skandinavien gegeben hat, und zudem noch im elften Jahrhundert, am Ende der Wikingerzeit - das ist neu.
Überhaupt gerät seit wenigen Jahren verstärkt in den Blick der Forschung, wie einige damalige Skandinavier gezielt ihre Körper verändert haben. Bislang geht es hauptsächlich um Zähne: Seit 1989 wurden etwa 130 Schädel aus der Wikingerzeit identifiziert, in deren Schneidezähne jemand horizontale Kerben geritzt hatte. Sofern das Geschlecht ermittelt werden konnte, gehörten die Schädel allesamt Männern. Doch wozu die Kerben dienten, ist unklar. Mal heißt es, die Wikinger hätten mit ihnen Sklaven gekennzeichnet. Häufig werden die Linien aber auch als Ausweis einer Identität als Krieger interpretiert: Mit Ruß eingefärbt, hätten sie furchterregend ausgesehen, zudem hätten die Menschen damit ihre eigene Schmerzunempfindlichkeit demonstriert.
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Im Wikinger-Epos "The Northman" (2022) zum Beispiel wird deshalb eine Walküre, ein kriegerisches Geistwesen, mit solchen eingefärbten Kerben dargestellt.
Die Idee, dass Männer mit eingekerbten Zähnen Krieger waren, passt zum Wikinger-Klischee
Die Archäologen Lukas Kerk von der Universität Münster und Matthias S. Toplak vom Wikinger-Museum Haithabu haben nun am Beispiel der Insel Gotland alle bislang bekannten Beispiele von Körpermodifikationen zusammengetragen und versucht, sie zu deuten. Wie sie in der Fachzeitschrift Current Swedish Archaeology argumentieren, sind bisherige Interpretationen auf der Grundlage der archäologischen Funde eher fragwürdig.
So gebe es statistisch keine Unterschiede in den Grabbeigaben zwischen Toten mit und ohne Einkerbungen in den Zähnen, schreiben sie. Das spreche sowohl dagegen, dass Sklaven markiert wurden, als auch gegen die Idee einer Krieger-Identität. Die Vorstellung passt zwar zum in der Popkultur verbreiteten Wikinger-Bild von urtümlichen und rauen Schlägern. Doch handelte es sich um Krieger, wäre zu erwarten gewesen, dass die Skelette mehr Kampfverletzungen aufwiesen als andere, und dass man ihnen häufiger Waffen mit ins Grab gegeben hätte als Toten ohne Kerben. Beides sei aber nicht der Fall. Für einen religiösen Hintergrund spreche archäologisch ebenfalls nichts, denn Tote mit Kerben finden sich in vorchristlichen ebenso wie in christlichen Gräbern.
Wozu sich die Gotländer Kerben in die Zähne schnitzten, darüber können auch Kerk und Toplak nur spekulieren. Doch dass man die Kerben ausschließlich an Zähnen von Erwachsenen gefunden habe, lasse an eine Art Initiationsritus denken, argumentieren sie. Die Markierungen seien zudem hinter Lippen und Bart gut zu verstecken gewesen. Das Gros der Schädel mit Kerben sei zudem an damaligen Handelsplätzen gefunden worden, 46 von ihnen allein im Gräberfeld von Kopparsvik. Dort waren Männer mit gefeilten Zähnen in einem eigenen Bereich beigesetzt worden, in dem sich kaum Gräber für Frauen und Kinder fanden. Insgesamt liege deshalb der Gedanke nahe, die Kerben können ein Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Händlern gewesen sein, meinen die zwei Archäologen.
Fälschungssicher waren Zahnkerben zwar streng genommen nicht: Wer sich die mutmaßlichen Vorteile erschleichen wollte, konnte sich selbst Linien in die Zähne ritzen. Doch Untersuchungen an den Kerben zeigten, dass diese von einigen wenigen, kompetenten Personen gefeilt wurden, die wussten, was sie taten, erklärt Matthias S. Toplak. Die Technik sei nicht trivial. Er habe - zu deren Entsetzen - mit vielen Zahnärzten über die Zahnkerben gesprochen und denke, dass Laien diese Feilungen nicht ohne Weiteres nachahmen konnten, ohne gravierende Schäden an den Zähnen anzurichten. Sie hätten selbst mit Zähnen und einer Stahlfeile experimentiert, deshalb wisse er: Man müsse wirklich Druck ausüben, sagt Toplak. Zudem habe es sich um ein leicht zu verbergendes Merkmal gehandelt, das Außenstehenden nicht unbedingt aufgefallen sei.
Womöglich waren künstlich verformte Schädel den Wikingern einfach egal
Auffälliger und damit geeigneter dafür, eine klare Gruppenzugehörigkeit zu demonstrieren, wären zum Beispiel Tätowierungen gewesen. Doch auch wenn Wikinger-Muster heute beliebte Tattoo-Motive sind, sei eher unwahrscheinlich, dass die Wikinger sich tätowierten, sagt Toplak. Skandinavische Eismumien mit tätowierter Haut wurden bislang keine gefunden. Für Tätowierungen spreche nur ein Bericht des Diplomaten Ahmad Ibn Fadlān aus dem frühen zehnten Jahrhundert nach Christus über eine Reise zu den Warägern in Osteuropa. Deren Körper seien von Kopf bis Fuß mit dunkelgrünen Mustern bedeckt, so der Araber. Doch es ist unsicher, welche Gruppe Ibn Fadlān genau beschrieb. Und es sei unklar, ob er wirklich Tätowierungen meinte oder nur Körperbemalungen, sagt Toplak. Er selbst sei eher skeptisch.
Die Frage, wozu man den Schädel der Frau aus Havor deformiert hatte, müssen Kerk und Toplak ebenfalls offen lassen. Ihnen zufolge ist sogar unklar, ob sich daraus überhaupt etwas über die Kultur der Skandinavier in der Wikingerzeit ableiten lässt. Denn die Frau ist zwar kein Einzelfall - insgesamt wurden aus jener Zeit bislang drei "Turmschädel" in Skandinavien entdeckt, allesamt Frauen, alle aus einer ähnlichen Zeit, und alle auf Gotland. Doch es existieren weder frühere noch spätere Funde von der Insel, und entsprechend deformierte Kinderschädel wurden bislang auch nicht gefunden. Der Brauch scheint demnach von außen nach Gotland gekommen zu sein und sich dort nicht durchgesetzt zu haben.
Die Herkunft der Praxis verorten Toplak und Kerk in Zentralasien oder in Südosteuropa. Vor allem in der Region des heutigen Bulgarien seien "Turmschädel" im elften Jahrhundert noch verbreitet gewesen, schreiben sie, dort sei die Deformation mutmaßlich ein Ausdruck von Prestige gewesen, und es habe nachweislich Handelskontakte der Gotländer in diese Regionen gegeben. Unklar sei aber, ob die Frauen Zuwanderinnen von dort waren, die Köpfe dort deformiert worden waren oder man einen Brauch der Handelspartner nachgeahmt hatte. Unklar ist auch, was die übrigen Gotländer von der Deformation dachten. Die Frau aus Havor jedenfalls stammte Genanalysen zufolge aus Gotland. Eine der anderen kam aus dem östlichen Baltikum. Und in den Gräbern finden sich keine Anzeichen dafür, dass sie schlechter behandelt wurden als andere.