Psychologie:Linke ohne Mitgefühl?

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Laut einer Studie betrachten beide Seiten des politischen Spektrums die Ansichten des anderen Lagers als moralisch verwerflich. (Foto: Thomas Trutschel/photothek.net/imago/photothek)

Womöglich bringen Progressive politischen Gegnern weniger Empathie entgegen als Konservative.

Von Sebastian Herrmann

Zu den wichtigsten Instrumenten in politischen Debatten der Gegenwart zählt der Zeigefinger. Dieser lässt sich erstens prima zur Untermalung eines moralischen Vorwurfs hoch in die Luft erheben. Zweitens dient der Zeigefinger dazu, auf die Anhänger der Gegenseite zu deuten: Die sind nämlich an allem schuld, was hier falsch läuft, natürlich, und wenn die das nur endlich einsehen würden, dann liefe der Laden hier reibungslos, ist doch klar. Offenbar pflegen beide Pole der so oft beschworenen Polarisierung diese Haltung: Sie alle beteiligen sich an diesem Zeigefinger-Spiel. Gerade haben jedoch die Psychologen James Casey, Eric Vanman und Fiona Kate Barlow von der australischen University of Queensland eine Studie im Personality and Social Psychology Bulletin veröffentlicht, laut der Progressive noch ein wenig unbarmherziger auf Konservative blicken, als diese es umgekehrt machen. Für beide Seiten gilt: Unser Mitgefühl heben wir vor allem für unsere Leute auf, im linken Lager aber noch etwas mehr.

An den Versuchen der Psychologen nahmen etwas mehr als 4700 Probanden aus den USA und Großbritannien teil, zwei Länder, die spätestens seit dem Brexit und der Wahl von Donald Trump gemeinhin als politisch gespalten gelten. Die Teilnehmer der Studie zählten zu etwa je der Hälfte zum eher progressiven oder eher konservativen Lager. Ihre Aufgabe war es, hypothetische Szenarien zu bewerten, in denen Personen in unpolitischen Situationen etwas zustieß, zum Beispiel eine Verletzung. Zusätzlich erhielten die Probanden die Information, dass es sich in den beschriebenen Szenarien um jemanden handelte, der politisch ihrem Lager, der Gegenseite oder keine weltanschaulichen Gruppe zugeordnet war.

Anschließend maßen die Psychologen in verschiedenen Dimensionen die Empathie, welche die Studienteilnehmer den beschriebenen Menschen entgegenbrachten. Empathie - ganz wichtig angesichts des durch Übernutzung aufgeweichten Begriffes - definierte das Team um Casey als "Mitgefühl und Verständnis für das Leiden eines anderen Menschen, verknüpft mit der Absicht, diesem zu helfen".

Schuld haben natürlich immer die, auf die der Zeigefinger gerichtet ist - die anderen

Sowohl Konservative als auch Progressive zeigten vor allem Empathie mit Mitgliedern ihres Lagers. Schon mit als politisch neutral bezeichneten Personen fiel die Empathie ein klitzekleines Bisschen geringer aus, wenn auch nicht wirklich signifikant. Ein sehr erwartbares Ergebnis, da Menschen - unabhängig von ihren Ansichten oder ihrer anderswie definierten Identität - nun einmal vor allem Mitgefühl mit Mitgliedern ihrer Gruppe empfinden. Konservative zeigten jedoch Progressiven in Not signifikant mehr Mitgefühl als umgekehrt.

Beide Seiten betrachteten die Ansichten des anderen Lagers als moralisch verwerflich. Auch hier fiel das Urteil linkerseits harscher aus. Vor allem bewerteten Progressive konservative Positionen als schädlicher beziehungsweise als gefährlich, was die Forscher als Haupttreiber des beobachteten Mangels an Mitgefühl auf Seiten der Progressiven identifizierten.

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Insgesamt, so betonen die Psychologen, zeigt sich in der Forschungsliteratur zur Frage von politischer Heimat und Mitgefühl bislang ein heterogenes Bild. Die aktuellen Befunde widersprechen den bisherigen nicht, sortieren sich jedoch auch nicht nahtlos ein. Gewiss sei aber, dass beide Seite einen verzerrten Blick auf die anderen pflegten, so die Wissenschaftler, und sich Ansichten jeweils durch die eigene ideologische Linse zurechtbiegen.

Dass die Dämonisierung der Gegenseite sowie die Beschimpfung und Abwertung ihrer Wähler die Lage nur verschärft, dürfte allen klar sein. US-Präsident Joe Biden sprach zumindest in seiner Rede zur Amtseinführung im Jahr 2021, dass man gemeinsam die Seelen öffnen statt die Herzen verhärten möge und sich stets auch in die Schuhe der Andersdenkenden versetzen solle. Ein Appell, der leichter ausgesprochen als umgesetzt ist und den in fast allen Ländern offenbar niemand beherzigt . Schuld haben natürlich immer die, auf die der Zeigefinger gerichtet ist - die anderen.

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