Ökologie:Der warme Herbst verwirrt die Natur

Lesezeit: 3 min

Die Kraniche fliegen dieses Jahr später als sonst in ihr Winterquartier. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Igel und Fledermäuse sind immer noch unterwegs, und manche Zugvögel fliegen nicht mehr in den Süden. Wie Tiere und Pflanzen auf die ungewöhnlich hohen Temperaturen reagieren.

Von Tina Baier

Vor Angelika Nelsons Fenster hat neulich ein Rotkehlchen gesungen. Es war schön, aber irgendwie auch seltsam. Immerhin ist es Mitte November. "Der Vogel dachte vielleicht, es sei Frühling", sagt die Biologin vom Landesbund für Vogel- und Naturschutz (LBV). Die Tageslänge passt, sie ist im Herbst ähnlich wie im Frühjahr. Dazu kommen die ungewöhnlich hohen Temperaturen in diesem Herbst: Der Oktober war der wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, und auch im November gab es rekordverdächtig hohe Temperaturen.

Tiere und Pflanzen reagieren darauf, das ist nicht zu übersehen. Igel, die sonst um diese Zeit oft schon im Winterschlaf sind, laufen noch in den Gärten herum, auch Fledermäuse sind noch unterwegs und viele Zugvögel, zum Beispiel Stare, sind immer noch nicht in ihre Winterquartiere aufgebrochen. Auch der Zug der Kraniche, von denen die meisten in Frankreich und Spanien überwintern, verzögert sich dieses Jahr nach Angaben des Dachverbands der Deutschen Avifaunisten. In Norddeutschland rasten derzeit noch Zehntausende dieser Vögel.

Zilpzalp und Mönchsgrasmücke überwintern neuerdings in Deutschland

Was bedeuten die wohl vom Klimawandel verursachten hohen Herbsttemperaturen für die Natur? Schaden sie? Oder hilft es Tieren und Pflanzen vielleicht sogar, wenn es im Herbst noch warm ist? Igel zum Beispiel haben dadurch länger Zeit, sich eine ausreichend dicke Fettschicht anzufressen. Und immer mehr Zugvögel scheinen ganz darauf zu verzichten, in den Süden zu ziehen: "Schon in den vergangenen Jahren wurden uns mitten im Winter immer wieder Sichtungen von Zilpzalp und Mönchsgrasmücke gemeldet", sagt Nelson. "Noch vor ein paar Jahren wäre das eine Sensation gewesen." Beide Arten sind noch bis vor Kurzem in den Süden gezogen, um dort zu überwintern. Dass sie jetzt im Januar hier sind, bedeute, dass diese Tiere gar nicht mehr wegfliegen, sondern sich aufgrund der vergleichsweise milden Temperaturen entschieden hätten, den Winter in Deutschland zu verbringen, sagt Nelson. Dadurch sparten sie sich den Vogelzug, der stets mit vielen Gefahren verbunden sei.

Wissenschaftlich sind die Auswirkungen steigender Herbsttemperaturen auf die Natur erstaunlich schlecht erforscht. "Der Herbst, eine vernachlässigte Jahreszeit in der Klimawandelforschung", lautet der Titel eines Übersichtsartikels, der vor einiger Zeit im Wissenschaftsjournal Trends in Ecology & Evolution zu dem Thema erschienen ist.

Den Studienautoren zufolge ist es je nach Art sehr unterschiedlich, ob ein warmer Herbst eher schadet oder nutzt. Grundsätzlich zeichnet sich aber ab, dass flexible Spezies, die sich relativ schnell an veränderte Umweltbedingungen anpassen können, eher profitieren, während unflexiblere eher geschwächt werden.

Klimaforschung
:Was passiert, wenn die CO₂-Emissionen aufhören?

Noch ist unklar, ob die Erwärmung anhält, wenn die Menschheit keine Treibhausgase mehr ausstößt. Nun haben Forscher genauer nachgerechnet.

Von Marlene Weiß

Bei den Zugvögeln zum Beispiel sind viele Kurzstreckenzieher flexibler und können je nach Situation entscheiden, wann und ob sie überhaupt losfliegen. "Sie können auch dann noch reagieren, wenn sie sich jetzt entschieden haben, hierzubleiben, es dann aber unerwartet doch noch ein strenger Winter wird", sagt Nelson. Bei Langstreckenziehern ist das Zugverhalten dagegen genetisch im Erbgut festgelegt. Der Kuckuck zum Beispiel überwintert in Afrika südlich des Äquators. Die Vögel verlassen Deutschland bereits Anfang August und kehren in der zweiten Aprilhälfte zurück.

Früher war das genau der richtige Zeitpunkt, um etwa dem Hausrotschwanz ein Kuckucksei unterzujubeln. Doch der Hausrotschwanz ist ein Kurzstreckenzieher, der aufgrund des Klimawandels sein Zugverhalten verändert hat, oft früher nach Deutschland zurückkehrt und auch früher anfängt zu brüten. Der Kuckuck kommt dann regelrecht zu spät. "In den Nestern seiner Wirtsvögel sitzen manchmal schon die Jungen", sagt Nelson.

Biologen gehen davon aus, dass der Klimawandel und die damit verbundenen höheren Temperaturen im Herbst - und auch im Frühjahr - viele solcher "mismatches" zur Folge haben, von denen die meisten noch gar nicht bekannt sind. "Asynchronität kann entstehen, wenn interagierende Arten unterschiedlich auf den Klimawandel reagieren", schreiben die Autorinnen und Autoren des Übersichtsartikels in Trends in Ecology & Evolution. Als Folge könne sich die Dynamik ganzer Ökosysteme verändern.

Manchen Insekten hilft der warme Herbst bei der Vermehrung

Viele Zugvögel fressen zum Beispiel während des Flugs in ihre Winterquartiere die Früchte ganz bestimmter Pflanzenarten. Im Gegenzug transportieren sie die Samen und helfen der Pflanze so, sich auszubreiten. Wegen der warmen Herbsttemperaturen ziehen die Vögel jetzt erstens später los, und zweitens werden die Früchte früher reif: Frucht und Vogel treffen sich also nicht mehr. Die Tiere müssten deshalb auf die Früchte anderer Pflanzen ausweichen, schreiben die Forschenden. Oft seien das invasive Gewächse, die "oft spät im Jahr noch große Mengen von Früchten mit niedrigem Nährwert bilden". Als Konsequenz haben die Vögel weniger Energie für ihren Zug in den Süden und statt der heimischen werden die invasiven Pflanzen verbreitet.

In anderen Bereichen könnten die steigenden Temperaturen im Herbst aber auch positive Effekte haben. Es gibt etwa Hinweise darauf, dass manche Insekten dann zusätzliche Generationen bilden können, sich also stärker vermehren.

Ob die steigenden Temperaturen im Herbst unterm Strich mehr positive oder mehr negative Effekte auf die Natur haben, können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler derzeit nicht beantworten. Klar ist aber, dass ein Anstieg der Temperatur in einer Jahreszeit, die sowohl ökologisch als auch evolutionsbiologisch essenziell für viele Tiere und Pflanzen ist, große Veränderungen zur Folge hat und haben wird. Die Konsequenzen kann derzeit noch niemand überblicken.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusExklusivÖkologie
:Geschützt und doch vergiftet

In vielen Schutzgebieten Deutschlands dürfen Landwirte ganz legal Pestizide verwenden. Exklusive Berechnungen zeigen das gigantische Ausmaß. Hilft ein EU-Verbot?

Von Tina Baier und Alexandra Ketterer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: