"Es ist absolut herzzerreißend", sagt Meeresbiologin Selina Ward. Seit etwa 30 Jahren forscht sie am Great Barrier Reef vor der Küste Australiens. Das sei bei jeder Korallenbleiche so, "aber mit dieser" - sie zieht die Augenbrauen zusammen, schluckt, lächelt - "habe ich wirklich zu kämpfen". Ward ist in einem Video zu sehen, das die britische Tageszeitung The Guardian veröffentlicht hat. Hinter ihr ist der Pazifische Ozean zu sehen, und darin sterben in diesem Moment die Korallen. Die US-Wetter- und -Ozeanografiebehörde NOAA spricht davon, die Welt erlebe gerade die vierte globale Massenkorallenbleiche der Geschichte.
Australien ist fern, und Korallenriffe scheinen etwas für den nächsten Urlaub zu sein, weiße Korallen eine aufregend morbide Unterwasserlandschaft. Sie sind nichts davon. Im Februar 2024 meldete der europäische Wetterdienst Copernicus, erstmals habe die Erderwärmung durchschnittlich zwölf Monate lang 1,5 Grad Celsius über dem Referenzzeitraum gelegen.
Bei einer Erwärmung um 1,5 Grad Celsius gehe die Mehrheit der Korallenriffe weltweit verloren, hat der Weltklimarat IPCC bereits im Jahr 2018 festgestellt. Dies könnte nun eintreffen. Sowohl auf der nördlichen als auch auf der südlichen Halbkugel dokumentierte die NOAA von Februar 2023 bis April 2024 eine erhebliche Korallenbleiche. Die Forschenden erwarten, mehr Riffe als je zuvor seien betroffen. Die Bleiche wurde laut NOAA in 54 Ländern, Gebieten und lokalen Volkswirtschaften bestätigt. Korallen bieten Fischen ein Zuhause, ernähren damit mittelbar Millionen Menschen und schützen Küsten vor Stürmen. Allein wirtschaftlich bezifferte das internationale Global Coral Reef Monitoring Network den Wert der globalen Korallenriffe 2020 auf jährlich 2,7 Billionen Dollar.
Der SZ-Newsletter zur Klimakrise:Klimafreitag - das wöchentliche Update
Am 2. August 2024 erscheint dieser Newsletter zum letzten Mal. Wir bedanken uns für Ihr Vertrauen und Ihr Interesse an der Berichterstattung über Klimathemen der Süddeutschen Zeitung.
"Wir sind im Katastrophenfilm angekommen", sagte Ove Hoegh-Guldberg, Professor für Meeresforschung an der University of Queensland, der New York Times. In Selina Wards Video ist zu sehen, dass die Unterwasserlandschaft alle Farben verloren hat. Fische huschen hier durch weiße Korallenäste, eine Schildkröte versteckt sich unter einer weißen Wölbung, weiße Tentakel wiegen sich in der Strömung. Die Bleiche reiche bis zu 18 Meter in die Tiefe, so die Australian Marine Conservation Society, eine Stiftung. Ward sagt, es seien Korallenarten betroffen, die normalerweise resistent sind, und manche würden bereits sterben, obwohl dies gewöhnlich erst nach Wochen oder Monaten geschehe. Terry Hughes, emeritierter Korallenforscher an der australischen James Cook University, hat eine Karte mit bislang gesammelten Daten auf dem Netzwerk X, vormals Twitter, veröffentlicht. Noch ungebleichte Korallen sind hier blau markiert, doch kaum ein Punkt ist blau. Hughes sagte dem Guardian, das gegenwärtige Phänomen sei "das am weitesten verbreitete und schwerste Massenbleich- und Mortalitätsereignis, das jemals am Great Barrier Reef aufgezeichnet wurde".
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von X Corp. angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von X Corp. angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Korallen sind keine Pflanzen, sondern winzige Tiere, die in Gemeinschaft leben. Die Polypen haben einen sackartigen Körper und einen Mund. In ihrem Gewebe leben winzige Meeresalgen, die den Tieren Energie und Farbe geben. Um sich herum bauen Korallen ein Skelett aus Kalkstein, um ihren empfindlichen Körper zu schützen. Hitze lässt die Meeresalgen absterben; daraufhin verhungern die Korallen, und nur ihr Kalzium-Skelett bleibt zurück. Die Folgen dessen sind schwer absehbar, ungezählte Arten hängen von lebenden Korallen als Nahrung oder Schutz ab. Weltweit versuchen Forschende deshalb, Korallenarten zu züchten, die höheren Wassertemperaturen standhalten.
Das Wasser vor Florida war im Juli 2023 bis zu 38 Grad Celsius warm
Seit 2023 sind die globalen Meerestemperaturen außergewöhnlich hoch. Im März 2024 wurde mit 21,07 Grad Celsius ein neuer Allzeitrekord für die weltweite Oberflächentemperatur der Ozeane aufgestellt. Dabei handelt es sich um einen Durchschnittswert, lokal kann das Wasser sehr viel wärmer sein: So wurden im Juli 2023 vor Florida badewannenwarme 38 Grad Celsius gemessen.
Im Prinzip ist es nicht überraschend, dass die Meere sich aufheizen. Der vom Menschen verursachte Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid sorgt dafür, dass mehr Wärmeenergie auf der Erde gehalten wird. Ungefähr 93 Prozent dieser überschüssigen Hitze nehmen die Ozeane auf.
Für Forschende überraschend ist jedoch das derzeitige Tempo der Erwärmung. Die Ozeantemperaturen 2023 lagen 0,25 Grad Celsius über dem bisherigen Rekord im Jahr 2016. Wurde zuvor einmal ein Rekordwert überboten, dann um höchstens 0,1 Grad, wie es in einer Analyse von Wissenschaftlern auf der Plattform The Conversation heißt. Eine Ursache für den außergewöhnlichen jetzigen Sprung dürfte das Klimaphänomen El Niño sein, das im Frühsommer 2023 begonnen hat. Allerdings macht sich das Klimaphänomen meist erst in der zweiten Jahreshälfte richtig bemerkbar. Zu dieser Zeit tanzten die Ozeantemperaturen 2023 längst aus der Reihe.
Forschende diskutieren daher verstärkt andere Faktoren: So könnte etwa der Ausbruch des Unterwasservulkans Hunga Tonga-Hunga Haʻapai im pazifischen Inselstaat Tonga im Januar 2022 eine Rolle gespielt haben. Dabei gelangten große Mengen Wasserdampf in die Atmosphäre, das als starkes Treibhausgas wirkt. Zudem stoßen Containerschiffe seit einigen Jahren weniger Schwefelpartikel aus, die kühlend auf die Atmosphäre wirken. Wird die Luft sauberer, verschwindet dieser Kühleffekt. Dennoch reichten diese Effekte bislang nicht aus, um die anomale Hitze zu erklären, gesteht der Nasa-Klimaforscher Gavin Schmidt im Fachmagazin Nature.
In den kommenden Monaten könnte die Hitze im Pazifik nachlassen, denn El Niño schwächt sich bereits ab. Im Atlantik könnte die Hitze aber bis September anhalten.
Das dürfte nicht nur den Korallen zusetzen, sondern auch den Menschen: Experten schätzen, dass die Hurrikan-Saison in diesem Jahr aufgrund der hohen Temperaturen des Atlantiks ungewöhnlich stark ausfallen könnte.
Das Absterben der Korallenriffe stuft das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung als Kipppunkt im Klimasystem ein. Das heißt: Die Lage kann lange stabil bleiben, sich dann aber rasch verändern und dann auch andere Ökosysteme bedrohen. Es bestehe das Risiko eines Dominoeffekts. "Es ist an der Zeit", sagt die australische Meeresbiologin Selina Ward. "Es ist Zeit zu handeln und es gibt keine Ausreden mehr."