Der Strom der Alltagsklagen schwillt beständig an. Ständig haben es alle schwer, leiden unter Druck, müssen Stress aushalten und können kaum den Kopf über Wasser halten. Im Beruf? Nichts als Druck! In der Familie! Alles auf Kante genäht, total krass! Und die armen Kinder in der Schule, gemartert von Erwartungen, kleingehalten vom Leistungsdruck im pädagogischen Höllenreich zwischen Mathe, Latein und Bundesjugendspielen.
Wo soll das nur enden? Wer ein Publikum hat, der lässt es an seinen Alltagsqualen teilhaben, berichtet vom Stress, unter dem er steht, schmückt aus, wie gemein das alles ist und wie kurz vorm Burn-out er stehe. Kurze Übertreibungspause: Ja, das Leben kann wirklich anstrengend sein. Aber trotzdem, wie sieht denn die Gegenutopie aus zu dieser so präsenten Erzählung vom Alltag als Seelenbrecher? Nur noch Müßiggang? Stundenlang Youtube-Short-Videos glotzen, Dauerkarte fürs Yoga-Retreat buchen und nichts als Selfcare den ganzen Tag, um auch dieses garstige Gegenwartswort zu benutzen?
Der Zustand des Flows stellt sich eher bei schwierigen Tätigkeiten ein
Anstrengung und Mühsal, natürlich im rechten Maß, ist doch klar, gehören zu einem erfüllten Leben. Wer es vermeidet, sich nach etwas zu strecken, jede kleine Herausforderung scheut und sich vor dem damit zwangsläufig verbundenen Druck wegduckt, der bringt sich selbst um Glück. Gerade haben die israelischen Wirtschaftswissenschaftler Arie Sherman und Tal Shavit eine Studie im Journal of Happiness Studies publiziert, die diese segensreichen Nebeneffekte der Anstrengung, besonders in der Arbeit, abermals nahelegen. Trotzdem lässt sich aus den Daten der 1954 Teilnehmer der Studie keinesfalls ein Plädoyer dafür destillieren, dass ausschließlich Mühsal im Job der Schlüssel zu mehr Zufriedenheit sei. Anstrengung, so die Studie, steht nämlich auch dann mit Sinn- und Glücksgefühlen in Verbindung, wenn Menschen für Hobbys Aufwand treiben oder sich für Freunde, die Gemeinschaft oder die eigene Gesundheit engagieren.
"Die klassische Haltung im ökonomischen Standarddenken lautet", schreiben Sherman und Shavit, "dass persönlicher Aufwand stets minimiert werden sollte." Menschen wählten demnach den Weg des geringsten Widerstandes, und ein gutes Pferd, so das abgedroschene Sprichwort, springt ja auch nur so hoch, wie es muss. Natürlich trifft das ein wenig zu, aber eben nicht vollumfänglich. Die psychologische Forschungsliteratur füge dem nämlich hinzu, so Sherman und Shavit, dass die besten Erfahrungen im Leben nicht aus Phasen entspannter Passivität rühren, sondern sich aus Aktivität, Selbstwirksamkeit und Anstrengung speisen.
Der Zustand des Flows, also ganz in einer Tätigkeit aufzugehen und alles andere um sich herum zu vergessen, stellt sich mit höherer Wahrscheinlichkeit bei schwierigen, herausfordernden Tätigkeiten ein. Das gilt auch für Freizeitaktivitäten: Auf einer anstrengenden Bergwanderung bewegt man sich eher als vor dem Fernseher in eine Art meditativen Zustand, der dann nach der Tour in lang anhaltende Zufriedenheit übergehen kann. Am Ende ist es so, wie der britische Philosoph Bertrand Russell gesagt hat: Wenn dem Menschen alles mühelos zufliegt, beraubt er sich einer Zutat des Glücks. Ganz ohne Druck ist alles fad und leer.